Sehr geehrte trauernde Familie! Sehr geehrte Trauergemeinde!
Ich stehe schweren Herzens hier. Wie ein Schiffer, der plötzlich erkennen muss, dass der Stern erloschen ist, an dem er die Route seines Schiffes über Jahrzehnte hinweg ausgerichtet hat. Wir verabschieden uns von Gyula Tellér, der ein genialer Übersetzer und herausragender Wissenschaftler war. Von Gyula Tellér, der unser Freund und Meister war. Schon das ist ehrenwert, aber Gyula Tellér war darüber hinaus und vor all dem auch unser Mitstreiter.
Sehr geehrte Trauernde!
Vor dem Sarg eines 88 Jahre alten Menschen stehend ist der erste Gedanke, ob er ein ganzes Leben hatte? Wie sieht denn das ganze Leben aus? Das Leben leben und lieben. Danach streben, dass das Leben für uns und unsere Lieben schön und gut sei. Lieben und sich nach Liebe sehnen. Sich freuen. Die Schönheiten des Lebens genießen. Sich ohne Angst und Besorgnis, selbstvergessen freuen. Sich über die Freunde freuen, mit Freude sich selbst betrachten und darüber überrascht sein, dass sich andere nicht freuen. So kann eben das ganze, das erfüllte Leben sein. So kann es sein, wenn du kein Ungar bist. Wenn du aber ein Ungar bist, ist die Situation eine andere. Wenn du Ungar bist, ist das schöne, freudevolle, das fröhliche, das gefeierte Leben nicht identisch mit dem ganzen Leben. Irgendetwas fehlt daraus. Und es fehlt gerade das, was das Gewicht, die Ernsthaftigkeit, das, was wirklich zählt, gibt. Wenn du als Ungar geboren worden bist, dann gehörst du zu einer einzigartigen und besonderen Nation. Du sprichst eine Sprache, du platzierst dich mit einer Denkweise in der Welt und die Welt in dir, du richtest dein Leben nach Wahrheiten und Gesetzen ein, die nur für uns charakteristisch sind. Wenn du als Ungar geboren worden bist, dann gehörst du zu einer gefährdeten Spezies, die so viele Kräfte, auf so viele Weisen und über einen so langen Zeitraum hinweg in den Boden hinein pflügen wollten, dass schon allein unsere bloße Existenz eine politische Stellungnahme ist. Wir sind noch einige, die wir das verstehen. Wir sind einige, die das nicht nur verstehen, sondern ihr Leben auch dementsprechend ausrichten. Und wir kämpfen. Wir leben, indem wir kämpfen. Es gibt Ungarn, viele Millionen ehrlicher Ungarn, die gar nicht wissen, zwischen was für Kämpfen und Mühlsteinen gewaltiger Kräfte sie ihr Leben leben. Und wir sind einige, vielleicht auch mehrere, als wir das anzunehmen pflegen, die wissen und verstehen, warum sie so leben, wie sie es tun, und warum das mit ihnen und ihrer Heimat geschieht, was geschieht. Gyula Tellér gehörte hierher, in diesen Kreis, zu uns, dem Klub der Kämpfer. Deshalb war er unser Mitstreiter.
Sehr geehrte Trauernde!
Es gibt jene Menschen, die das Wissen, das Verstehen, das auf ungarische Weise Verstehen der Welt niederdrückt. Das Verstehen geht mit Verantwortung einher. Und diese Verantwortung ist schwer. Sie ist bedrückend und macht sorgenvoll. Doch Gyula Tellér bedrückte sie nicht und machte ihn auch nicht durch Sorgen belastet. Gyula bedrückte sie nicht und machte ihn auch nicht sorgenvoll. Das war die größte Lektion, die er erteilte, das größte Wissen, das ich von ihm abgucken konnte, das größte Geheimnis, das er mit mir teilte. Das Gewicht der Welt verstehen, kämpfen für das Recht der Ungarn und dabei sehen und genießen, dass das Leben schön ist. Denn es mag sein, dass wir tagsüber bis zur Hüfte in unserem Blut und dem unserer Gegner stehen, doch am Abend übertragen wir auf die Seele ergötzende Weise aus dem Französischen die Verse, die sich vor der Schönheit des weiblichen Körpers verneigen. Und wir trinken keine schlechten Weine und verfallen nicht dem Trübsinn unter dem Gewicht der Lasten, die man uns auferlegt hat. Wir entziehen uns selbst nicht das freudevolle Leben und ermöglichen unseren Gegnern nicht die Freude darüber, dass wir ein trostloses und übelgelauntes Leben leben. Warum sollten wir das auch tun, denn der Kampf, den wir fechten, ist ein guter Kampf. Und obwohl wir nicht wissen, wann er zu Ende sein wird, so können wir uns doch jeden Tag der gewonnenen Schlachten freuen, denn wir haben anderen etwas Gutes getan oder unseren Freund hat irgendeine Freude ereilt oder wir haben irgendwelche bisher verborgenen Zusammenhänge beleuchtet oder wir haben die Reihen unserer Gegner ausgedünnt oder wir haben gerade eine Wahl gewonnen und die Regierung gebildet oder irgendwo ist einfach nur ein weiterer Ungar geboren worden und es gibt erneut einen neuen Wachtposten. Und wir freuen uns, weil wir erfolgreich sind, weil wir hier sind und leben und schon dadurch stehen die Zeichen auf unseren Sieg in der großen historischen Schlacht um das Überleben der Ungarn. Wir danken Dir, unserem Bruder Gyula, dass Du uns all das gelehrt, erklärt und gezeigt hast.
Mein teurer Freund!
Heute bin ich hierher gekommen, um mich von Dir zu verabschieden, um als Ministerpräsident Ungarns noch einmal auszusprechen, wie sehr wir Dir für all das dankbar sind, das Du für uns, für unsere politische Gemeinschaft und die Heimat getan hast. 1990 sind wir gemeinsam Parlamentsabgeordnete geworden. Vor 33 Jahren. Was für Wege wir beschritten haben! Was für ein Abenteuer war es, mein lieber Freund! Was für ein romantisches, zum Weinen und zum Lachen bringendes, phantastisches Abenteuer! Und was für ein Triumph! Und das wird dadurch nicht gemindert, dass dies noch nicht der endgültige Triumph ist, ja auch das mindert nichts daran, dass es in dieser Welt auch gar keinen endgültigen Triumph gibt. Wir werden dann sehen. Auch bis dahin danken wir Dir, dass Du nach 1994 geholfen hast, damit aus dem zerschlagenen Trümmerhaufen der bürgerlichen Seite, der Rechte, der christlichen Seite die nationale große Koalition erstehen konnte. Wir danken Dir, dass wir 1998 die kommunistische Restauration aufhalten konnten. Was für eine Welt hätten wir heute hier, wenn damals nicht auch Du dort, mit uns auf dem Damm gestanden wärest. Wir danken Dir, dass Du geholfen hast, zu verhindern, dass wir nach vier Jahren Regierung und nach der Niederlage nicht zerfielen, so wie das erste christliche, nationale Lager 1994. Wir danken Dir, dass Du geholfen hast, damit uns acht Jahre hindurch nicht nur die Revanche, die noch so süße Rache leite, sondern wir uns intellektuell und programmatisch auf die Prüfungen vorbereiteten, die nach dem Sieg auf uns warteten. Wir danken Dir, dass Du uns eine Planskizze in die Hand gegeben hast, wie wir das bis 2010 funktionierende System, wie Du es nanntest: das System des Systemwechsels in seine Einzelteile zerlegen sollen. Wie wir die die Wirtschaft betreibenden und finanzierenden Konstruktionen trennen sollten, wie wir die Wucherkreise liquidieren, sollten, die Ungarn ausplündern und in der Zinsknechtschaft halten. Wir danken Dir, dass Du immer darauf aufmerksam gemacht hast, dass es ein Nationalinteresse gibt, und wenn es das gibt, man dieses vertreten muss, denn sonst ist die moralische Korrumpierung unaufhaltbar und wir sind auch für die moralische Wiederaufrüstung der ungarischen Gesellschaft verantwortlich.
Unsere Gegner haben Dich zum Chefideologien des Orbánsystems erklärt, und ich habe das als sehr ehrenvoll empfunden. Sie wussten es nicht, weil sie es nicht wissen konnten, dass Du noch mehr als das und wichtiger für uns warst. Du bist im Alter von 88 Jahren von uns gegangen. Wir sind hier schon einige, die das Alter von 60 Jahren hinter sich gelassen haben. Von hier aus ist es schon deutlich zu sehen, dass früher oder später auch wir Dir folgen werden. Jetzt kannst Du uns noch einmal helfen. Dein Andenken und Dein Beispiel sollen uns helfen, damit wir nicht im Selbstmitleid versinken. Lass es nicht zu, dass uns aufgrund Deines die Endlichkeit des irdischen Lebens beweisenden Todes das Selbstmitleid übermannt. Denn wenn es so wäre, wie könnten wir dann den Kampf fortsetzen? Und wenn wir ihn nicht fortsetzen könnten, wie könnten wir dann Deiner Freundschaft und Deinem Andenken würdig bleiben? Lass es nicht zu, dass wir vergessen: Du warst ein Kämpfer und Du bist auch als ein Kämpfer von uns gegangen. Als ich dort an Deinem Bett stand, da warst Du auch nur darüber bereit zu sprechen, was in der Angelegenheit des Krieges unternommen werden müsste und welche geistigen Gefahren wir im Keim ersticken müssen. Deshalb sind unsere Tränen jetzt keine Tränen des Selbstmitleids, uns schmerzt einfach nur das Fehlen des großen Kämpfers.
Deshalb verabschieden wir uns von Dir auf diese Weise. Heiliger Erzengel Michael, steh’ uns bei im Kampf! Gegen die Bosheit und Nachstellungen des Teufels sei Du unser Schutz. ‘Gott gebiete ihm!’, so bitten wir flehentlich. Du aber, Fürst der himmlischen Heerscharen, stoße den Satan und die anderen bösen Geister, die in der Welt umherschleichen, um die Seelen zu verderben, durch die Kraft Gottes hinab in die Hölle. Und stärke Deine Kämpfer, die hier, auf der Erde, in Deinem Zeichen streiten, und nimm jene zu Dir, die von uns gegangen sind.
Gyula, mein Bruder, Gott sei mit Dir!