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Viktor Orbáns Podiumsdiskussion mit dem ehemaligen deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder und Roger Köppel

Roger Köppel: Sehr geehrte Eminenzen! Sehr geehrte Herren und Damen Botschafter! Liebe Politiker, ehemalige Politiker, Behördenvertreter, liebe Gäste, geschätzte Vertreter der Medien aus vielen Ländern! Herzlich willkommen im Namen der Weltwoche, hier in Wien. Es freut uns, dass Sie da sind, und es freut mich riesige, dass ich als neutraler Schweizer hier im neutralen Österreich bei Ihnen zu Gast sein darf. Ganz herzlichen Dank! Und ich freue mich natürlich ganz besonders auf unser Gespräch heute, am späten Nachmittag mit zwei herausragenden Staatsmännern. Für etwa 90 Minuten werden wir hier diskutieren über Frieden in Europa, mit zwei Politikern, die natürlich zu reden geben, und die natürlich Akzente setzen und gesetzt haben. Der eine, herausragender Sozialdemokrat, von eindrücklichem Werdegang, der den Mut hat als brillanter Reformpolitiker die Interessen seines Landes über seine Karriere, über sein Amt und über seine Partei zu stellen, und der auch in Zeiten des Krieges zusammen mit seinem französischen Amtskollegen Jacques Chirac sich getraut hat auch den Freunden in Washington einmal die Meinung zu sagen: Bundeskanzler Gerhard Schröder. Und auf der anderen Seite Ungarns langjähriger Ministerpräsident, der dienstälteste Ministerpräsident in der Europäischen Union und aktuell Vorsitzender des EU-Rates, ein Freiheitskämpfer der allerersten Stunde, auf den Barrikaden gegen die sowjetischen Panzer in Budapest zur Zeit des Kalten Krieges und heute ein Kämpfer für die Diplomatie und den Frieden auf der Welt: Premierminister Viktor Orbán. Ich möchte Sie ganz herzlich willkommen heißen, und natürlich auch die Ehepartnerin, die Ehepartnerinnen, die Belegschaft aus Ungarn, die ganze Delegation, it’s great to have You here as our friends. Meine sehr geehrten Damen und Herren, meine erste Frage, Herr Schröder, ganz kurz: Was verbindet Sie mit Wien?

Gerhard Schröder: Einmal, weil es wirklich eines der schönen europäischen Capitals ist, und zum Zweiten, dass man hier sehr gut leben kann, und zum Dritten, ich habe hier sehr viele Freunde. Nicht nur politische. Und die noch am wenigsten.

Roger Köppel: Und, Herr Ministerpräsident, haben Sie auch so ein entspanntes freundschaftliches, kollegiales Verhältnis zu Wien, der früheren Hauptstadt von Österreich-Ungarn?

Die Ungarn verbindet mit diesem Ort der Kaiser.

Und wenn ich Sie gleich fragen darf: Was halten Sie eigentlich von Ihrem Gesprächskollegen heute hier auf der Bühne, von Gerhard Schröder? Was ist da Ihre Beziehung?

Ich werde jetzt ein paar altmodische Dinge sagen. Ich weiß nicht, ob das Wort Respekt hier noch in Mode ist? Wir waren Kollegen, also wenn ein Elefant und eine kleine Maus Kollegen sind, aber wir haben ein paar Jahre zusammen gedient. Und es macht mich traurig zu sehen, dass der Respekt, der Respekt vor ehemaligen Führungskräften, aus der Welt verschwunden ist. Früher war das anders, da waren ehemalige Bundeskanzler sehr geachtet. Und ich sehe, dass das nicht mehr überall der Fall ist, aber in Ungarn, wenn man sagt, jemand war der ehemalige Bundeskanzler von Deutschland, stehen alle auf und zeigen ihren Respekt. Ich bin also mit dem Bundeskanzler durch Respekt verbunden, und zwar nicht nur durch Respekt vor dem Älteren, sondern auch durch beruflichen Respekt. Es gibt zwei Dinge, die er getan hat, die kein anderer getan hat, wofür ich großen Respekt vor ihm habe, und vielleicht können wir später darüber sprechen.

Roger Köppel: Herr Schröder, wie ist das bei Ihnen? Was halten Sie von Viktor Orbán? Sie kennen sich ja lange. Wir haben ja das Bild gezeigt, 1998. Eigentlich hat sich keiner von Ihnen verändert. Was ist Ihr Verhältnis zu ihm?

Gerhard Schröder: Mein Verhältnis war eigentlich immer gut. Wir haben uns 1998, 1999, relativ früh kennengelernt, und ich war häufiger und sehr gerne in Budapest. Und ich erinnere mich ganz besonders gerne an den Gulasch, den es da immer gegeben hat, und mit dem man großzügig umgegangen ist, und es gab auch immer, So-yeon verzeih‘, ein ordentliches Bier dazu. Und ja, obwohl wir in unterschiedlichen Parteien großgeworden sind, war uns Europa wichtig, aber es war uns auch wichtig, ein vernünftiges Verhältnis zu unserem großen Nachbarn Russland zu pflegen, und es zu behalten, soweit das politisch möglich ist.

Eines meiner Fiaskos hängt mit dem Herrn Vorsitzenden zusammen. Ich erinnere mich, dass ich vielleicht 1999 bei einem privaten Abendessen unter vier Augen versucht habe, ihn davon zu überzeugen, dass bei der Erweiterung der Europäischen Union die Bewerber nicht in Gruppen zusammengefasst werden sollten, sondern dass derjenige, der als weiter vorangekommen war, sofort aufgenommen werden sollte – wir Ungarn waren natürlich an der Spitze – und der Bundeskanzler lehnte ab. Und er sagte zu mir, ich solle auf die Landkarte schauen: Es ist unmöglich, dass Polen nicht in der ersten Gruppe der Erweiterung ist, also wird die Erweiterung in Gruppen stattfinden. Ich hatte phantastische Gegenargumente, von denen keines funktionierte…

Roger Köppel: Vielleicht noch eine letzte persönliche Frage zum Einstieg, bevor wir in das ernsthafte und erschütternde Thema einsteigen. Sie beide sind ja Politiker, die zum Teil ja ganz heftig kritisiert werden, ja auch geradezu angefeindet werden. Und da fragen sich ja auch viele auch im Publikum: Wie geht man eigentlich damit um? Man ist der Bundeskanzler der Bundesrepublik, überall rollen sie einem den roten Teppich aus und plötzlich wirst du da angegriffen, und wollen sie dich nicht mehr kennen. In solchen Momenten, wie sind Sie damit umgegangen, Herr Schröder, was hat Ihnen da Kraft gegeben, um nicht, sozusagen, die Flinte ins Korn zu werfen?

Gerhard Schröder: Zunächst einmal braucht man, wenn man so einen Job, oder so einen Beruf macht, ein dickes Fell. Man muss umgehen können mit Kritik, auch wenn man sie als unfair empfindet, und das habe ich vielfach so empfunden, und man braucht ein gesundes Selbstbewusstsein. Auch auf das kann ich zurückgreifen, jedenfalls gelegentlich gibt es eine einzige Ausnahme, wo mir mein Selbstbewusstsein nicht hilft, wenn ich meiner Frau widerspreche. Aber ich glaube, da bin ich nicht der einzige Mann, dem das so geht. Von daher ist das Zweite: Man muss aufgehoben sein, um dieses Maß an Anfeindung, an Kritik auszuhalten, und das bin ich.

Roger Köppel: Und bei Ihnen, Herr Orbán? Ich meine, Sie sind ja auch jemand, der immer im Zentrum auch der Kritik steht, jetzt auch gerade mit dieser Friedensinitiative, mit diesen Sondierungsgesprächen, da ist ja ein sogenannter Shitstorm aus Brüssel über Sie hereingebrochen. Wie gehen Sie damit um? Wie panzern Sie sich dagegen?

Ich glaube, dass es wichtig ist, geliebt zu werden, aber ich glaube auch, dass man zu Hause geliebt wird. Ich habe eine Frau, fünf Kinder, sechs Enkelkinder; ich habe Menschen, die mich lieben. Irgendwie werden wir die politischen Debatten schon überleben. Außerdem wurde ich in einem politischen Sinn in den Gegenwind hineingeboren, ich bin also ein Antikommunist, komme also aus dem antikommunistischen Widerstand der späten 1980er Jahre. Und ich bin es gewohnt, dass die Mehrheit, die Macht immer gegen mich ist. Die kommunistischen Medien, die kommunistische Partei und später, nach den Wahlen, als die Kommunisten zu Liberalen wurden, die Liberalen, immer; die Macht war immer auf der anderen gegenüberstehenden Seite. Und so ist es auch in Brüssel. Es gab also fast nie einen Moment in meinem Leben, in dem der Wind von hinten geblasen hätte. Daran bin ich gewöhnt. Und die Ungarn haben ein Sprichwort, das ein bisschen blasiert ist, aber es hilft zu überleben. Es geht ungefähr so: Die Ungarn haben nicht Recht, sondern sie werden Recht haben.

Roger Köppel: Herr Ministerpräsident, Herr Orbán, steigen wir in das Thema ein. Ich beobachte, vielleicht auch in diesem Saal, in weiten Teilen Europas, das bestätigen auch die Umfragen, eine große Sehnsucht, dass das Sterben, dass das Morden, das Leiden in der Ukraine aufhört. Die Leute wollen, dass dieser Krieg zu Ende geht. Wie sehen Sie die Situation heute? Wie groß ist die Chance, dass dieser Krieg in absehbarer Zeit endet? Wie wahrscheinlich ist da eine, Perspektive für den Frieden oder wenigstens für einen Waffenstillstand im Moment? Wo stehen wir?

Ich verfolge, was Herr Bundeskanzler Schröder zu diesem Thema zu sagen pflegt. Es gibt zwei Gründe, warum ich besonderen Respekt vor dem Herrn Bundeskanzler habe, und einer davon hat damit zu tun. Heute fährt ja Emmanuel Macron einen großangelegten Kurs, indem er über die strategische Autonomie Europas spricht, aber Gerhard Schröder hat das schon vor zwanzig Jahren verwirklicht. Europa hatte eine strategische Autonomie, als er deutscher Bundeskanzler war. Deshalb verfolge ich in geopolitischen Fragen immer, was der Herr Bundeskanzler sagt, auch zum Krieg, und ich teile im Allgemeinen auch seine Meinung. Deshalb habe ich mich auf ein Gespräch zu diesem Thema eingelassen. Ich bin kein Optimist. Wir können Europa überhaupt nicht trauen, Europa kann keinen Frieden machen. Europa kann heute einen Krieg machen, aber keinen Frieden. Die einzige Hoffnung, die wir haben, ist also, dass auf der anderen Seite des großen Teiches in fünf Tagen eine Entscheidung getroffen wird, die, wenn schon keinen Frieden, so doch zumindest einen Waffenstillstand bringen kann.

Roger Köppel: Wie sehen Sie das, Herr Schröder? Ich meine, Sie haben ja Kontakte zum russischen Präsidenten, Sie kennen die Situation. Ist es im Moment eigentlich wahrscheinlich, dass Verhandlungen geführt werden können? Wäre Putin grundsätzlich bereit, nach wie vor Verhandlungen zu führen oder sagt er, wir gehen jetzt einfach militärisch so weit, wie wir nur können. Wie ist da Ihre Beurteilung?

Gerhard Schröder: Ich kann das letztlich nicht beurteilen, das kann keiner, doch ich glaube, dass man nachweisen kann, dass er keineswegs nur Kriegsherr sein will und ist, und nicht nur das, sondern dass er sich auch Gedanken darüber macht, wie man diesen Krieg beenden könnte. Und das ist interessant, ich war beteiligt an einem Versuch, der von der Ukraine ausging, von Präsident Selenskyj. Und das war unmittelbar nach Kriegsbeginn, – der bekanntlich im Februar 2022 begann –, ich habe eine Bitte bekommen über Freunde aus der Schweiz, – da gibt’s noch mehrere –, ob ich mit Herrn Putin darüber reden könnte. Ich habe zuerst prüfen lassen, ist das vielleicht ein Witzbold, der sich einen Spaß machen will, und dann über mich sagt, er macht sich wichtiger, als er eigentlich ist. Und es stellte sich heraus, es war ernst gemeint. Und ich habe dann den Mitarbeiter von Herrn Selenskyj empfangen, und wir haben darüber geredet, was denn das Thema eines solchen Gesprächs zu Beendigung des Krieges sein könnte, was wären die Themen, die besprochen werden müssten. Also zunächst einmal, Donbas. Geht es, wenn ich das richtig sehe, vielleicht kann mir Viktor Orbán zustimmen, geht es hier in erster Linie um kulturelle Fragen, im Grunde um die Sprachfragen. Vielleicht war es ein Fehler, dass das ukrainische Parlament die Zweisprachigkeit im Donbas nicht länger akzeptiert hat. Das führt natürlich zu Verwerfungen in Landesteilen, die vorwiegend russisch sprechen. Das zweite war natürlich die NATO-Mitgliedschaft. Und darüber ist zu reden, denn das ist natürlich ein elementares Interesse der anderen Seite. Drittens ging es, natürlich, darum, wenn schon auf die NATO-Mitgliedschaft verzichtet werden soll, geht es um die Sicherheit der Ukraine, und zwar die garantierte Sicherheit. Der Vorschlag war, das kann man über den Weltsicherheitsrat plus Deutschland machen und die können solche Sicherheitsgarantien unter Umständen geben. Besonders schwierig natürlich: Krim. Was ist dort zu machen? Lösung – nach meiner Auffassung, nach der damaligen Diskussion überhaupt nur auf der Zeitschiene zu erreichen. Es gibt keine schnellen Lösungen gegenwärtig. Und dann Donbas. Ich finde, da wäre es sinnvoll gewesen, wenn man die Zweisprachigkeit, einzig auch aus menschlichen Gründen, denn ein Rentner, der russisch spricht, aber kaum ukrainisch, was ja eine andere Sprache ist, der soll seinen Rentenantrag in einer Sprache, die er kaum versteht, stellen? Das wäre also ein erster Punkt gewesen, bei dem man ein Entgegenkommen hätte zeigen können.

Roger Köppel: Darf ich da ganz schnell einhaken?

Gerhard Schröder: Ja.

Roger Köppel: Es ist nämlich interessant, dass ja auf der Grundlage dieser Gespräche, dann ja auch Verträge gemacht worden sind, entworfen worden sind, und es ist interessant, Sie waren da ja wirklich nahe dran. Wie nahe war man denn eigentlich an einer Einigung? Und ich meine, die Ukraine hat sich auch bereiterklärt einen neutralen Status anzunehmen, das hat ja Selenskyj sogar getwittert, wie nahe war man damals, im April 2022 daran dran.

Gerhard Schröder: Mein Eindruck war, nicht nah genug. Ich habe darüber ja mit Präsident Putin gesprochen, und er fand das durchaus erwähnenswert und interessant und hat mich gebeten, dann mit hochrangigen Mitarbeitern darüber zu reden, die diese Frage weiterverfolgen sollten. Dazu ist es nicht gekommen, weil die Frage, ob man dies überhaupt will auf der anderen Seite, eine Frage war, die für mich offengeblieben ist, ich konnte das nicht beantworten, und wahrscheinlich konnte das niemand. Dann ist versucht worden, jemanden auf gleiche Weise arbeiten zu lassen, der im Amt war. Es ist ja immer schwierig für Politiker, die nicht mehr im Amt sind, Zugang zu finden, und hinreichend Zugang zu finden. Und damals ist der Gedanke entwickelt worden, ob nicht ein Präsident im Amt, der Zugang zu beiden Seiten hat, nämlich Präsident Erdoğan aus der Türkei das Weiterführen der Gespräche hätte übernehmen können. Was er ja auch gewollt hat… gemacht hat. Ich weiß nicht, wie weit er seinerzeit gekommen ist. Jedenfalls war das eine Möglichkeit, die sich dann nicht realisieren ließ. Ich will jetzt nicht darüber spekulieren, ob andere Mächte, die Interesse an dieser Auseinandersetzung haben – aus welchen Gründen auch immer, wesentlich beteiligt waren – es könnte sein, aber in jedem Fall ist das nicht zustande gekommen, und nach meiner Auffassung ist diese Frage, wie geht man mit diesen Themen um, immer noch eine, die eine Lösung sein könnte, die müsste dann aber, weil das nach meiner Auffassung ein europäisches Problem ist, deswegen – das muss ich ganz klar sagen, fand ich toll, dass Viktor Orbán versucht hat, in gleicher Weise zu arbeiten – und ich glaube, dass bei allem Respekt vor Ungarn und vor Viktor Orbán insgesamt, man hätte eher darüber nachdenken müssen, daneben Deutschland und Frankreich, als wichtige Unterstützer der Ukraine dazu zu bringen, nicht nur Unterstützung auch mit Waffen zu leisten, sondern das zu verbinden, auf der einen wie auf der anderen Seite, mit einem Versuch über diplomatische Kanäle Friedensinitiativen zu ergreifen. Dass wäre jedenfalls mein Wunsch gewesen. Dazu ist es nicht gekommen. Präsident Erdoğan hat versucht, etwas zu tun, aber er hat es letztlich auch nicht schaffen können. Das ist sehr bedauerlich, weil unglaublich viele Menschen deswegen sterben mussten, und ich finde, es ist die Aufgabe insbesondere europäischer Politik, und da setze ich auf solche Menschen wie Viktor, und auch auf andere in Frankreich, in Deutschland, dafür zu sorgen, dass dieser Krieg, der ja in Europa stattfindet, von dem die Amerikaner weiter weg sind, dass das eine eminent europäische Aufgabe ist, da wirklich Erfolge zu erzielen.

Roger Köppel: Herr Orbán, kommen wir zu Ihnen! Sie haben eine solche Friedeninitiative lanciert, vor den Sommerferien. Sie sind gegangen zu Präsident Selenskyj, Präsident Putin, Sie haben Präsident Erdoğan gesprochen, Sie waren in Peking, und Sie waren in Mar-a-Lago, der inoffiziellen Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Amerika und Sie haben ja auch dort ein Bild bekommen. Und wir haben ja jetzt gehört, im April 2022 lag ein Vorschlag auf dem Tisch: neutrale Ukraine, nicht NATO-Mitglied, vielleicht offener Zustand für die Krim. Was ist jetzt Ihr Eindruck? Ist ein Putin noch bereit, sich auf so etwas einzulassen? Sind solche Vorstellungen noch konkret? Oder was ist da Ihr Eindruck aus all diesen Gesprächen gewesen?

Ich möchte zunächst etwas zu der Geschichte sagen, die der Herr Bundeskanzler erzählt hat. Wenn ich Ihre Ausführungen richtig verstanden habe, wurde etwa im April 2022 in Istanbul oder zumindest irgendwo in der Türkei der Versuch unternommen, ein Abkommen zwischen den Russen und den Ukrainern zu schließen. Ich habe die Dokumente dazu gesehen. Was also der Herr Bundeskanzler sagt, davon habe ich also die schriftlichen Spuren gesehen. Es lag ein Vorschlag auf dem Tisch, der die Grundlage für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen hätte sein können. Hier erwähnt der Herr Bundeskanzler offensichtlich höflichst nicht einen zentralen Akteur in dieser Geschichte. Das ist der Premierminister des Vereinigten Königreichs, der der Legende nach…

Roger Köppel: Boris Johnson…

… der der Legende nach in diesen Prozess eingriff und die Vereinbarung unmöglich machte. Ob das genau auf diese Weise der Fall war, das werden dann die Historiker beschreiben, aber wir sollten zu Protokoll geben, dass wir im April 2022, auch dank Herrn Bundeskanzler Schröder, kurz davor waren, zumindest einen Waffenstillstand zu erreichen. Das ist seine Geschichte. Meine Geschichte ist der Juli 2024. Damals übernahmen wir die EU-Ratspräsidentschaft. Ich habe viel darüber nachgedacht, was ich mit dieser EU-Ratspräsidentschaft anfangen soll. Man kann sie auch auf bürokratische Weise abwickeln, man hat 52 legislative Dossiers offen, von den witzigsten Themen bis zu den ernsthaftesten, man muss Hunderte von Sitzungen abhalten, und wenn man es gut macht, klopfen einem die Bürokraten in Brüssel auf die Schulter: „Was für eine schöne Präsidentschaft!“ Das Wichtigste ist, dass nichts passiert. Darüber habe ich nachgedacht. Wir hatten schon einmal eine solche Präsidentschaft, im Jahr 2011, auch damals war ich der Ministerpräsident, so etwas haben wir schon einmal gemacht. Aber jetzt hatten wir hier diesen Krieg. Und ich habe mich gefragt, welche Pflicht man in einer solchen Zeit hat. Und ich dachte, dass wir zur christlich-demokratischen Welt gehören, und dass dies kein Zufall ist, und dass dies etwas bedeuten muss. Und ich dachte, dass sich Menschen an der Front gegenseitig umbringen, dass jeden Tag Hunderte von Menschen sterben. Jeden Tag gibt es Hunderte von Waisen, Witwen, Invaliden! Schrecklich! Im Fernsehen sehen Sie nicht, wie schrecklich dies ist. Dies ist ein sehr brutaler Krieg. Diese Slawen sind sehr rüde, wissen Sie: gute Soldaten, und sehr rüde. Es gibt also riesige menschliche Verluste. Und ich dachte, wenn ich schon der christlich-demokratischen Welt angehöre, sollten wir es versuchen. Wir haben ein Werkzeug in der Hand, wir sind der amtierende Präsident, was könnte wichtiger sein als zu versuchen, etwas für den Frieden zu tun? Und dann habe ich einige der erfahreneren europäischen Politiker gefragt, die ich nicht der Verfolgung durch die Presse aussetzen möchte, daher werde ich ihre Namen nicht nennen, und sie sagten: Versuche es! Nur zu, versuche es! Und dann habe ich den Plan gefasst, nach Kiew und dann nach Moskau zu fahren und zu versuchen, einen Waffenstillstand zu erreichen. Ich spreche nicht von Friedensgesprächen, denn ich denke, dass Friedensgespräche eine schwierige Sache sind. Friedensverhandlungen erfordern Friedenspläne, die eine bestimmte Realitätsgrundlage besitzen, aber das ist schwierig, kompliziert und langwierig. Meine Zielsetzung war es nicht, ein Friedensabkommen zu schließen, sondern einen Waffenstillstand zu erreichen, damit sie sich nicht gegenseitig umbringen. Und ich dachte, dass ich sie dazu bringen könnte, einem Waffenstillstand zuzustimmen, wenn ich sie davon überzeugen könnte, dass die Zeit gegen sie arbeitet und es daher für alle besser wäre, wenn wir jetzt einen Waffenstillstand abschließen und während des Waffenstillstands darüber diskutieren könnten, wie wir Friedensgespräche führen können. Aber dazu hätte ich sie davon überzeugen müssen, dass die Zeit gegen sie arbeitet. Und das habe ich Selenskyj gesagt. Wir haben Juli, Juli 2024. Glauben Sie mir, im September wird es viel schlimmer sein, aber er sagte, nein, es wird besser sein und sie werden gewinnen. Ich sagte: „Aber es gibt Zahlen, Fakten, Daten. Das ist nicht von Interesse, sie werden siegen. Ich ging zum russischen Präsidenten und er sagte: „Aber wir sind gerade dabei, zu siegen. Kann ich eine Garantie dafür bekommen, dass die andere Seite einen Waffenstillstand nicht dazu nutzt, die militärischen Nachschubstellungen zu stürzen, wenn es einen Waffenstillstand gibt?” Ich konnte ihm diese Garantie nicht geben, also habe ich auch hier versagt. Und dann habe ich mir gedacht, na ja, wir haben zwei Kriegsparteien und viele Opfer, wie können wir sie dazu bringen, Frieden zu schließen? Und so ging ich nach China. Und dann bin ich nach Washington gegangen, habe mit Erdoğan gesprochen, und schließlich bin ich zu Herrn Präsident Trump nach Mar-a-Lago gegangen, weil ich dachte, dass wir eine internationale öffentliche Meinung zusammenbringen müssen, die Druck auf beide Seiten ausübt, und die wichtigsten Länder der internationalen Gemeinschaft sind sich einig darin, einen kurzen Waffenstillstand zu fordern. Dies kann nur von außen erreicht werden. Ich habe einen Bericht darüber an die Bürokraten in Brüssel und an alle europäischen Ministerpräsidenten geschrieben, dass man dies machen sollte. Die Chinesen waren dabei, die Türken waren dabei. Washington war mit anderen Dingen beschäftigt, es gab damals einen anderen Präsidentschaftskandidaten, nicht die aktuelle Kandidatin. Und Herr Präsident Trump befand sich mitten im Wahlkampf und sagte, er sei ein Mann des Friedens, wenn er gewinne, könnten wir auf ihn zählen, aber bis dahin besitze er keine Zuständigkeit. Und die Europäer lehnten den Vorschlag ab, ein Friedenslager mit den Chinesen und den Türken zu schaffen, um Druck auf die Kriegsparteien auszuüben, und sie sagten nein dazu. Also blieben wir mit den Chinesen und gründeten mit ihnen im September dieses Jahres eine Gruppe bei der UNO, die sich „Freunde des Friedens“ nennt. Dies wurde offiziell von China initiiert – Sie wissen schon: Elefant, kleine Maus – und wir arbeiten jetzt daran. Das ist meine Geschichte. Und es ist eine sehr traurige Geschichte, dass die Europäer, die am meisten an einem Waffenstillstand und Frieden interessiert wären, nicht verstanden haben, dass sie sich nicht auf die Seite des Krieges stellen müssen; dass es nicht ihre Aufgabe ist, den Krieg in der Ukraine zu gewinnen, denn erstens ist das unmöglich, und zweitens kostet es viele Menschenleben, sondern ihre Aufgabe als Europäer ist es, auf der Seite des Friedens zu stehen. Und es ist mir nicht gelungen, irgendein großes Land in der Europäischen Union in dieser Hinsicht zu überzeugen. Deshalb sage ich, dass ich keine Hoffnung in die Europäer setze. Ich habe sie aus der Nähe gesehen, ich will nichts Schlechtes über sie sagen, aber ich weiß nicht, ob es im Deutschen ein Wort für ‘erbittert’ gibt? Sie sind erbittert. Sie wollen den Krieg gewinnen. Sie wollen Russland besiegen. Das ist es, was sie im Sinn haben. Das ist es, wovon sie sprechen. „Jetzt werden wir Russland besiegen.“ Und die Schlüsselrolle dabei spielt die Präsidentin der Europäischen Kommission, die die Ideologie, das Narrativ trägt, sie geht voran, sie trägt die Flagge. Die Präsidentin der Europäischen Kommission ist diejenige, die an der Spitze marschiert und sagt, dass wir die Russen im Krieg besiegen und der Ukraine alles geben müssen, damit dies geschieht. Und alles, was von Frieden spricht, schiebt sie als Verrat, als antidemokratisch, als nicht salonfähig beiseite. Das ist die Situation in Europa heute. Das ist es, was ich sagen kann.

Roger Köppel: Das wichtigste Gegenargument, das gegen Sie gebracht wird, Herr Ministerpräsident Orbán, lautet, und das ist natürlich auch das Argument, das die Europäische Union bringt, das Ursula von der Leyen bringt, das ein Kanzler Scholz bringt, dieses Argument lautet: Putin ist ein imperialistischer Diktator, der mit der Ukraine einen ersten Markstein setzt für weitere Eroberungen. Wir müssen Putin stoppen, weil wenn wir ihn jetzt nicht stoppen, dann wird er belohnt für seine militärische Aggression, für seinen Angriffskrieg, und das ist ein fürchterliches Schwächezeichen der westlichen Welt, und wenn wir das zulassen, wäre das eigentlich eine Einladung an alle Potentaten und an alle Aggressoren, den Westen anzugreifen. Und das ist es, was man Ihnen sagt, das ist Appeasement was Sie machen, Appeasementpolitik, die sich als Friedensmission kleidet, aber eigentlich ist es eine Politik der Schwächung der westlichen Position. Was halten Sie diesen Kritikern entgegen, die Ihnen das sagen?

Erstens: Die Lage verschlechtert sich immer weiter. Dieser Krieg ist verloren. Dieser Krieg ist für die Europäer, für die Ukraine verloren. Das ist die militärische Realität. Ich weiß nicht, was in der deutschen und österreichischen Presse geschrieben wird, aber ich habe noch keinen vernünftigen Militäranalysten gesehen, der nicht sagt, dass die Ukraine diesen Krieg an der Front nicht gewinnen kann. Darin besteht Einigkeit. Nur die Politiker sagen, dass dieser Krieg gewonnen werden kann. Dieser Krieg ist militärisch verloren. Natürlich, wenn der Westen beschließt, Truppen an die Front zu schicken, und der russisch-ukrainische Krieg an der Front zu einem NATO-russischen oder europäisch-russischen Krieg wird, dann ist das eine neue Situation, aber dann sollten auch Sie sich in Wien sich vorbereiten, denn es wird Rekrutierungen geben. Aber wenn wir das nicht wollen, wenn wir nicht bereit sind, Soldaten an die Front zu schicken, dann haben wir dieser Krieg verloren. Die Frage ist, wann wir uns einigen, denn jeden Tag wird das Ausmaß der Niederlage größer. Die Russen rücken vor, die Ukrainer sterben in immer größerer Zahl, die Ukraine liegt zunehmend in Trümmern und kann keine Bedingungen zum Leben bieten, und die Lage wird jeden Tag nur schlimmer. Deshalb will ich nicht moralisieren, und ich will auch nicht darüber reden, wie ein dauerhafter Frieden aussehen könnte, oder ob Putin ein Imperialist ist, das sind im Moment irrelevante Umstände. Wir haben gerade einen Krieg verloren, in dem sich die Lage täglich verschlechtert. In Situationen wie diesen sagen vernünftige Menschen: Halten wir ein, Waffenstillstand. Noch kein Frieden: Waffenstillstand, es sollen keine weiteren Menschen mehr an der Front sterben und beginnen wir zu verhandeln. Es ist sehr selten, dass es einen Krieg gibt, in dem es keine Kommunikation zwischen den gegnerischen Seiten gibt. Aus diplomatischer Sicht ist das, was wir tun, barbarisch. Egal, welche Art von Krieg es gibt, es gibt dort immer eine Kommunikation. Dass Europa stolz darauf ist, dass es nicht mit den Russen kommuniziert, dann ist das barbarisch. Das ist Dummheit, diplomatischer Analphabetismus und menschlich gesehen Barbarei. Welche Botschaft sendet es aus, wenn wir nicht kommunizieren? Es ist so wie die Botschaft, die an die Deutschen im Zweiten Weltkrieg gesendet wurde: Wir werden weitergehen, bis wir euch nicht vernichtet haben, bis wir nicht alles bedingungslos besetzt haben. Ist das die Botschaft, die wir nach Moskau senden wollen? Offensichtlich wollen wir Moskau nicht besetzen! Oder doch?

Roger Köppel: Herr Schröder, man muss das auch für unsere Medienvertreter hier im Saal festhalten, bei unserem Gespräch in Zürich haben Sie auf eine absolut entschiedene Art und Weise diesen Krieg natürlich verurteilt und Sie haben auch gesagt, das sei ein riesiger Fehler von Wladimir Putin gewesen, hier diese militärische Karte zu ziehen. Sie haben das auf eine unzweideutige Art und Weise verurteilt. Sie haben aber auch gesagt, und das hat mich auch ein bisschen erschüttert, ich sage jetzt nicht, positiv oder negativ, Sie haben gesagt, bei diesem Friedensprozess kann man eigentlich die Europäische Union vergessen. die ist kein Faktor mehr. Wo ist Deutschland und wo ist Frankreich, wo sind diese Länder darin, eine europäische Position zu markieren? Ich frage Sie: Was ist mit Europa los in dieser Situation? Sie haben den Schilderungen von Ministerpräsident Orbán zugehört. Was ist mit Europa los, Herr Schröder?

Gerhard Schröder: Ich kann Ihnen das auch nicht sagen. Ich bin zu lange weg aus den aktiven und informellen Zusammenhängen. Da ist die Position von Viktor Orbán sehr viel näher dran. Was er aber eben gesagt hat, entspricht ja der Wahrnehmung keineswegs nur der offiziellen Politik, sondern der Menschen in Europa auch. Und deswegen glaube ich, dass die zentrale Frage lautet: Das ist ein Krieg, der in Europa stattfindet, jedenfalls in Teilen in Europa stattfindet, in größeren Teilen als in anderen Bereichen, und weil das so ist, wäre es Aufgabe insbesondere der großen europäischen Mächte, Viktor Orbán da sozusagen zu folgen, wenn man so will. Denn natürlich kann er eine Menge machen, weil er Vertrauen genießt, zum Beispiel, wie ich weiß, in Russland etwa. Aber was er brauchte, um so einen Prozess wirklich anzufassen und auch positiv zu Ende zu bringen, wäre die Unterstützung insbesondere von Frankreich und Deutschland. Eine ganz wichtige Frage. Natürlich wäre Spanien willkommen, natürlich wäre Italien willkommen, das ist keine Frage, aber solange eine solche Initiative, die man nur begrüßen kann, nicht von Deutschland und Frankreich gemeinsam unterstützt wird, wird das in Europa schwierig durchzusetzen sein. Und deswegen wäre es so wichtig gewesen, wenn man die Initiative, wegen der er ja auch gescholten ist, unterstützt hätte. Ich meine, das ist ja auch interessant, seit wann wird man wegen Friedensinitiativen gescholten in diesem Land? Wo sind wir eigentlich gelandet? Solche Initiativen können misslingen. Aber ich meine, eine Friedensinitiative, selbst wenn sie misslingt, weil die andere Seite nicht oder noch nicht so weit ist, eine solche ist doch nicht unsinnig, sondern muss doch Aufgabe einer demokratisch strukturierten und an Menschlichkeit orientierten europäischen Politik sein. Wer, wenn nicht die Europäische Union soll denn einen Krieg, der in Europa zwischen europäischen Mächten oder auch europäischen Mächten stattfindet, beenden wollen? Die Amerikaner interessiert das sicher, weil sie alles interessiert, was in der Welt passiert oder nicht passiert. Ist auch in Ordnung so. Aber zentral muss doch die Frage sein, ist dieses gemeinsame Europa in der Lage, einen Krieg, der in Europa stattfindet, zu beenden, mit Hilfe, meinethalben auch der Amerikaner. Oder was ebenfalls nicht unwichtig ist, wenn Brasilien etwa mitmacht, die BRICS-Staaten insgesamt, sind das ja alles willkommene Partner für einen Prozess, der aber in erster Linie doch Europa angeht, und Europa ist die Europäische Union. Und mitten aus dieser Europäischen Union darf jemand, der jetzt hier regiert, nicht alleingelassen werden. Das ist das eigentliche Manko, das ich hier sehe. Diejenigen, die in Brüssel die EU verwalten, viel mehr ist das ja nicht, die wird man dazu nicht bewegen können, die haben auch nicht den Hintergrund, sie zu bewegen, einen solchen Prozess, den er begonnen hat, aktiv zu unterstützen. Aber das müsste sein. Denn: Wie viele sollen noch sterben. ehe Diplomatie wieder in ihr Amt gesetzt wird? Das ist doch die zentrale Frage, die sich verantwortliche Politik gegenwärtig in Europa stellen muss.

Roger Köppel: Vielleicht eine kurze Nachfrage?

Gerhard Schröder: Ich gebe auch eine kurze Antwort.

Roger Köppel: Eine kurze Nachfrage. Es ist interessant, das wird ja auch Ihnen immer um die Ohren geschlagen, dabei wäre das ja auch eine Qualität, Sie haben wirklich enge Verbindungen, langjährige Verbindungen zu Präsident Putin. Sie kennen ihn vermutlich am besten von allen hier im Saal, über viele-viele Jahre auch, mittlerweile schon Jahrzehnte. Da möchte ich von Ihnen schon noch eine Einschätzung hören. Man sagt über ihn, er ist quasi der neue Imperialist, der Eroberer, er hat Phantomschmerz, der will die alte Sowjetunion zurück. Haben Sie mit ihm einmal darüber gesprochen? Haben Sie ihn gefragt, „Wladimir, willst du eigentlich die alte Sowjetunion zurückerobern? Was ist mit dir los?” Haben Sie damals bei einem Glas Wein, irgendwo in einem seiner Paläste oder einem Bunker darüber gesprochen. Was will Putin? Was ist denn Ihre Erklärung? Ist er jetzt auf dem Eroberungstrip? Müssen wir ihn stoppen, weil er sonst weitere Länder frisst? Oder was geht in diesem Mann vor? Der einzige, der das je glaubwürdig beantworten kann, sind Sie, Herr Schröder.

Gerhard Schröder: Verzeihen Sie, ich bin kein Psychologe. Wir sollten auch Psychologie und Erforschung von Seelen aktiver Politiker nicht mit dem verwechseln, was Politik überhaupt tun kann. Denn selbst wenn er so wäre, wie er dargestellt wird, würde man ihn auch nicht umstimmen können, auch mit den besten Verträgen und Vertragsentwürfen nicht. Aber ich glaube, dass er ein bestimmtes Interesse daran hat, Russland als Ganzes zu erhalten, und Russland sozusagen vor Angriffen von außen, ich meine jetzt nicht unbedingt militärische, sondern auch ökonomische, die sich ja auch entwickeln können zu militärischen, das ist ja eine uralte Erfahrung, die Russland längste vor ihm gemacht hat, davor zu schützen. Das ist ja auch ein berechtigtes Anliegen eines jeden Politikers eines jeden Landes. Deswegen die Vorstellung, dass man aufgeben sollte, auch mit dem Präsidenten Russlands über friedliche Entwicklung und eine Beendigung des Krieges zu reden, ist doch absurd. Mit wem soll man denn sonst reden außer mit ihm und denen, die die Ukraine – wie immer man das bewerten will – so massiv unterstützen. Es kann doch nicht sein, dass man dahergeht und sagt: „Wir werden über Waffenlieferungen an die Ukraine Russland zu einem Frieden zwingen. Das ist ja in der Historie Europas noch nie gelungen. Und die Befürchtung, die ich jedenfalls habe, ist, dass es nicht gelingen kann. Und deswegen bleibt doch nur die Möglichkeit, dass sich in Europa genügend Verantwortliche so zusammenfinden, wie Viktor Orbán das eben skizziert hat. Und das reicht halt nicht, wenn das Ungarn allein macht, Entschuldigung, wenn ich das so sage. Was man bräuchte, wären nicht Leute, die immer nur erzählen, wer gewinnen muss, und wer verlieren soll, sondern wir brauchen Leute in der Europäischen Union, weil das ja mitten in Europa stattfindet, die sich die Mühe geben, auch wenn sie scheitern, die sich die Mühe geben, wenigstens den Versuch zu machen, mit jemandem wie Präsident Putin ins Gespräch zu kommen, und ihn Schritt für Schritt dazu zu bewegen auch, weil er natürlich auch um die Zwecklosigkeit dieses Krieges weiß, dazu zu bewegen, zu einer diplomatischen Lösung beizutragen. Es ist ja ein gegenseitiger Prozess, aber er muss doch in Europa beginnen. Die Amerikaner, bei allem Respekt, die sind weit weg, und ich wag’s ja auch kaum zu sagen, den einzigen der gegenwärtigen Präsidenten und Kandidaten, und ich habe ja so meine Zweifel, aber der erklärt hat, dass Amerika unter seiner Führung einen Beitrag zur Beendigung des Krieges leisten würde, das ist Herr Trump. Dass ich den noch einmal loben würde, habe ich mir auch nicht unbedingt vorstellen können.

Roger Köppel: Wir sind sicher Herr Schröder, auch diese Aussage wird Ihnen gebührend um die Ohren geschlagen werden, aber ich habe nicht den Eindruck, dass dies Sie in psychologische Existenznöte hineinbefördert.

Darf ich darauf reagieren?

Roger Köppel: Ja, bitte!

Ich stimme dem Herrn Bundeskanzler zu. Ungarn allein kann hier also keine Ergebnisse erzielen. Was erreicht werden konnte, haben wir erreicht, denn in Europa sprechen wir heute über Frieden und Waffenstillstand. Vor dem ungarischen Ratsvorsitz war es nicht einmal möglich, darüber zu sprechen. Soviel haben wir erreicht. Das ist schön und gut, aber es ist nicht genug. Und der Bundeskanzler hat Recht: Wenn wir mehr wollen, dann sind dazu die Deutschen und die Franzosen nötig. Ich habe mich kürzlich mit beiden getroffen. Ich habe dem deutschen Bundeskanzler bei allem Respekt gesagt, er solle sich beeilen und Verhandlungen aufnehmen, zu den Russen Kontakt aufnehmen. Dasselbe habe ich in Paris gesagt. Beeilen Sie sich und nehmen Sie Kontakt zu den Russen auf. Und zwar nicht heimlich, sondern öffentlich sollten wir anfangen, mit den Russen zu reden, denn sonst kommt ein Mann namens Donald Trump, er wird die Wahl gewinnen, er wird sofort anfangen, mit den Russen zu reden, und wir Europäer werden auf dem Hocker sitzen, dort, irgendwo in der Ecke, und die großen Jungs am Tisch. Warum ist das gut? Diese ganze Friedensmission muss also von den Franzosen und den Deutschen weitergeführt werden. Ich will das Gespräch nicht in eine andere Richtung lenken, denn die Abmachung ist, dass wir über die Ukraine und Russland sprechen, aber dennoch, in Klammern: Finden Sie es nicht tragisch absurd, dass es in der gesamten europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts darum geht, unabhängig davon, wer in den Kriegen gesiegt und wer verloren hat, dass wir viele Millionen christlicher Menschen ausgerottet haben? Jetzt müssen wir die Konsequenzen dessen tragen. Wir haben ein demografisches Problem in Europa, weil wir uns in den beiden großen Kriegen des 20. Jahrhunderts gegenseitig ausgerottet haben. Das ist die größte Lektion, dass in einem solchen Krieg ganz Europa in den Ruin getrieben wird. Und jetzt, in einem Krieg zwischen zwei christlichen europäischen Ländern, bringen sich die Menschen zuhauf gegenseitig um, während wir an der anderen Seite Europas Menschen aus fremden Kulturen hereinlassen. Ist das logisch? Wäre es nicht die Lehre aus der Geschichte…

Roger Köppel: Das wäre ein ganz interessanter Punkt. Ich komme gleich wieder auf die Friedensthematik. Was mir auffällt: Ich bin ja eine jüngere Generation. Aber mir fällt auf bei den Politikern, die heute in Europa den Ton angeben, da fehlt der Bezug zur europäischen Geschichte. Da fehlt vielleicht auch der Bezug, der biographische Bezug zu einem Krieg, den zum Beispiel ein Gerhard Schröder noch hat. Weil Sie sind vaterlos aufgewachsen, ihr Vater ist liegengeblieben in Rumänien, verheizt durch eine mörderische Kriegsmaschine, von Politikern, denen niemand die Grenzen aufgezeigt hat. Sie sind in ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen, in einer Baracke. Wir haben auch schon darüber gesprochen. Und Sie haben eigentlich Deutschland in Trümmern erlebt, und dann selber eine Biographie gehabt, man könnte auch sagen: ein kleines Wirtschaftswunder, ein kleines Schröder-Wunder gewissermaßen, der Aufstieg aus der Baracke ins Bundeskanzleramt. Werden wir heute, Herr Schröder, ich formuliere etwas provokativ, Sie können es dann ja abmildern: Werden wir heute von geschichtsblinden und wohlstandsverwahrlosten Politikern regiert?

Gerhard Schröder: Trotz des Beispiels muss ich das mit Empörung zurückweisen.

Roger Köppel: Das habe ich erwartet.

Gerhard Schröder: Wenn man alles über einen Kamm schert, dann macht man Fehler, gar keine Frage. Es sind Fehler vorgekommen und ich würde mir wünschen, dass man die materielle, auch die militärische Unterstützung der Ukraine verbindet auch mit der dortigen Bereitschaft, eine Friedensinitiative zu unterstützen. Und sich nicht darauf zu verlassen, dass die Unterstützung in den europäischen Ländern ohne eine solche Friedensinitiative auf Dauer sicherzustellen ist. Und auch in Amerika auf Dauer nicht sicherzustellen, denn auch die haben noch ein paar andere Probleme zu lösen, als Geld für Kriege auszugeben, die keinen, aber auch wirklich keinen weiterbringen, weder die Ukraine noch die Russen noch Europa wird diesen Krieg gewinnen können. Das ist doch die Begründung dafür, dass es doch vernünftige Politik geben muss, die alles, aber auch wirklich alles dafür tut, diesen Krieg zu fairen Bedingungen zu verhindern und zu beenden. Aber es gibt doch Vorschläge dafür, was man tun könnte, wenn man denn nur wollte. Und deswegen treibt mich wirklich um, auch emotional um, nicht wegen meiner Geschichte. Ich habe meinen Vater gar nicht kennenlernen dürfen, insofern ist das persönliche Geschichte, aber es spricht auch dafür, dass es tausende, abertausende andere gibt, denen es genauso geht, wie es bei mir vor, was weiß ich, 50-60 Jahren der Fall gewesen ist. Und deswegen bin ich ja der Meinung, dass man gerade in der jetzigen Situation, nicht nur darüber reden muss – es ist ein Krieg, den die Russen begonnen haben, es hilft doch nichts, das zu beschwören –, sondern es ist doch die Aufgabe derer, die gegen Krieg sind, weil Menschen ja nur gegen Krieg sein können, die gegen das Einander-gegenseitig-Umbringen sein können, die jetzt die Aufgabe haben, gerade die Vernünftigen hier in dieser Europäischen Union zu sagen: Wir wollen das beenden!, und dafür nutzt es ja nichts, jemanden als Kriegstreiber zu bezeichnen, mit dem man sich an einen Tisch setzen muss. wenn man wirklich zu einer diplomatischen Lösung kommen will. Und ich halte das für denkbar. Aber das kostet natürlich Anstrengungen, das kostet alte Pfade der Auseinandersetzungen zu verlassen, und den Versuch zu machen, wir wollen wenigstens investieren, in diesen Versuch, auch unsere – wie soll ich es sagen? – Kraft, unser politisches Renommee. Was gibt es denn Besseres, als darin zu investieren, und nicht zu wissen, ob man gewinnt oder nicht gewinnt, eine solche Lösung herbeizuführen? Das Risiko ist ein weit kleineres, als den Krieg mit einer Atommacht weiterzuführen. So würde ich das jedenfalls sehen.

Roger Köppel: Wollen Sie reagieren?

Das will ich auch! Ich habe nicht so viel Erfahrung und Lebenserfahrung wie der Herr Bundeskanzler, aber ich habe 26 Jahre unter sowjetischer Besatzung gelebt, ich kenne also die Russen noch aus der Zeit, als sie noch Sowjets hießen, sagen wir bei ihrem Mädchennamen. Und die anderen europäischen führenden Politiker kennen sie nicht. Ich kann nicht erkennen, dass die heute amtierenden europäischen Staats- und Regierungschefs so tiefgründig über Russland nachdenken würden. Das ist keine Kritik, denn sie sind im glücklichen Westen aufgewachsen, in einer Nachkriegsgeneration, die in Wohlstand lebte. Wir haben das nicht. Wir wurden in einem Land geboren, das von der Sowjetunion besetzt war. Wir haben also eine Vorstellung davon, was Russland ist. Und in diesem Krieg wird nun deutlich, dass das Verständnis für Russland als intellektuelles Problem bei den führenden europäischen Politikern nicht vorhanden ist. Was ist denn Russland? Wie ist es zu verstehen? Wie kann man sich mit ihm auseinandersetzen? Diese Überlegungen sind in der europäischen Politik völlig abwesend. Ich möchte niemandem meine eigene Interpretation aufzwingen, aber wir müssen wissen, dass Russland ein christliches Land ist, das zu Europa gehört, aber anders ist als wir. Und es ist anders, weil es eine andere Frage in den Mittelpunkt seines politischen Denkens stellt als diejenige, die im Mittelpunkt unseres westlichen Denkens steht. Im Zentrum des Denkens eines westlichen Politikers steht seit vierzig Jahren die Frage, wie wir unseren Bürgern die größte Freiheit bei größtem Wohlstand bieten können. Unser Denken dreht sich um die Freiheit. Eine freie Gesellschaft. Und deshalb denken wir oft, dass der Rest der Welt genauso denkt. Aber nein! In der russischen Politik geht es zum Beispiel nicht um Freiheit, sondern darum, wie man ein so großes Land mit 140 Millionen Menschen zusammenhält. Wie hält man es zusammen, damit es nicht auseinanderfällt, damit es nicht an den Rändern von Feinden im Osten, im Westen, im Süden zerschlagen wird? Das ist eine andere Art des Denkens: Russland zusammenhalten, Russland retten. Das ist etwas anderes als unser Gedanke darüber, wie man frei sein kann“, es ist eine andere Logik. Und das müssen wir verstehen. Wenn wir das verstehen, dann wissen wir auch, wie wir mit den Russen Politik machen müssen. Die Russen sprechen die Sprache der Stärke, denn ihr Land wird nicht durch Freiheit, sondern durch Stärke zusammengehalten. Wenn man also mit den Russen reden will, muss man mit ihnen in der Sprache der Stärke reden. Man muss reich sein, man muss Geld haben, man muss militärische Macht haben, und man muss politische Führung haben, denn die haben sie immer. Und wir hatten im Jahr 2022 einfach Pech, denn Amerika hatte keinen Trump als Präsidenten und Deutschland hatte einen Neuling als Kanzler. Und so ist das, was nicht hätte passieren dürfen, passiert, weil sie nicht verstanden haben, wie man mit den Russen Politik macht. Und dieses Wissen ist immer noch nicht vorhanden. Daher ist es eine große Schuld, dass Europa das Denken über Russland und die strategischen Beziehungen zu Russland neu erschaffen muss. Das muss erst einmal geschaffen werden. Das haben wir heute nicht. Es ist ein intellektuelles Problem.

Roger Köppel: Herr Ministerpräsident, ist Donald Trump der Mann, der weiß, wie man mit Russland umgehen muss, ohne von Russland in die Tasche gesteckt zu werden?

Ich habe heute Nachmittag mit dem Präsidenten gesprochen. Wir bereiten uns vor.

Roger Köppel: Das müssen Sie ein bisschen ausführen, Herr Ministerpräsident. Da müssen Sie ein bisschen mehr erzählen. Wir behalten es für uns, meine Damen und Herren, oder? Das bleibt vertraulich. Das ist zugesichert – wir sagen es nicht weiter.

Gut. Also in fünf Tagen wird es eine Wahl geben. Und wie der Herr Bundeskanzler sagte, wenn man von Amerika aus auf die Welt schaut, sieht man ein anderes Bild, als wenn man von Europa aus darauf schaut. Der Krieg in der Ukraine tobt direkt hier unter unseren Achseln, direkt nebenan. Von Amerika aus gesehen, ist er jenseits des großen Teiches. Es gibt keinerlei amerikanisches Interesse daran, Milliarden in die Ukraine zu schicken, Geld und Waffen. Es gibt keinerlei Interesse! Die derzeitige demokratische Regierung mag ein solches Interesse gehabt haben, aber die neu hereinkommenden Republikaner haben kein solches Interesse. Daher sind sie nicht an der Ukraine interessiert, sondern daran, wie sie diesen Konflikt aus der Weltpolitik ausschalten können. Und das werden sie auf eine Weise tun: Sie werden sich mit dem Präsidenten der Russen zusammensetzen und in kürzester Zeit ein russisch-amerikanisches Abkommen aushandeln, bei dem nicht klar ist, wo unser Platz sein wird. Denn unsere Staats- und Regierungschefs, unsere europäischen Staats- und Regierungschefs verpassen den Augenblick. Aber die Antwort auf Ihre Frage ist da zu finden, dass es den Amerikanern seltsamerweise, vielleicht aufgrund ihrer Größe, nicht schwerfällt, die Russen zu verstehen, denn auch die Amerikaner sprechen die Sprache der Stärke. Es stimmt zwar, dass es in der Nähe der Amerikaner nicht nach Siegelfett von russischen Militärstiefeln riecht, sondern nach McDonald’s, aber das ändert nichts daran, dass beide die Sprache der Stärke sprechen. Die Amerikaner werden sich also mit den Russen verständigen. Nicht auf eine komplizierte intellektuelle Weise, durch die Geschichte, sondern durch die Realitäten: Größe, Macht, Stärke, Soldaten, Einfluss, Rohstoffe. Punkt. Das ist ihre Sprache. Es ist die Sprache der Stärke. Da wird es kein Moralisieren geben, liebe Freunde! Da wird es Realpolitik geben. Und deshalb – und ich weiß, dass die europäischen Intellektuellen darauf herabschauen, sie haben Unrecht – werden die Amerikaner ein Ergebnis erzielen, sie werden einen Waffenstillstand schließen, sie werden ein Abkommen erreichen, wir werden kein Ergebnis erzielen. Wir mögen klüger sein, wir mögen denken, dass wir intelligenter sind, aber wir werden keine Ergebnisse erzielen, die Amerikaner schon. Das ist die Realität, leider. Ich sage das nicht gerne, sondern beschreibe es nur. Das ist die Realität. Ich glaube also, dass es gehen wird. Ja, Präsident Trump wird Russland gerade so gut verstehen, wie es nötig ist, und er wird die notwendigen Vereinbarungen treffen. Das ist meine Meinung und das ist zugleich auch meine Hoffnung.

Roger Köppel: Bevor ich mit Herrn Schröder über die Frage sprechen möchte, was eigentlich die Rolle Europas in dieser künftigen Welt sein muss oder sein kann, möchte ich noch eine Anschlussfrage stellen, die natürlich für viele von uns bewegend ist. Man hat ja etwas den Eindruck, Herr Orbán, dass wir in einer absurden Neuauflage des Kalten Krieges stehen. Der Kommunismus ist weg, eigentlich haben wir gedacht, die Mauer sind gefallen, die Welt wächst zusammen, und plötzlich sehen wir: Neue Mauern gehen hoch. Neue Konflikte entstehen. Stehen wir am Anfang eines neuen, eben absurden Kalten Kriegs, oder stehen wir am Anfang von einem Durchbruch, zu etwas ganz anderem. Zu einer multipolaren Welt, wie es heißt, mit BRICS-Staaten, einer vielfältigeren Welt, einer Welt vielleicht auch wieder der Partnerschaft zwischen China, Russland, Amerika? Auf was müssen wir uns einstellen, Herr Orbán? Oder gehen jetzt hier die Lichter aus, müssen wir in den Schützengraben? Müssen wir den Notvorrat anlegen? Müssen wir befürchten, dass unsere Kinder in den Krieg geschickt werden? Mit was für Gefühlen schauen Sie in die Zukunft?

Ich verstehe Ihre Frage, ich denke, sie ist eine Falle, und ich werde nicht darauf eingehen, denn es sind zwar sehr wichtige Fragen…

Roger Köppel: Da wissen Sie mehr als ich.

Das sind sehr wichtige Fragen, aber ich möchte näher an der Erde bleiben. Ich habe gesagt, es gibt zwei Gründe, warum ich den Herrn Bundeskanzler bewundere. Einer ist, dass er schon vor 25 Jahren im Irak-Krieg die strategische Autonomie Europas verwirklicht hat. Der andere Grund, warum ich ihn respektiere, ist, dass er die deutsche Wirtschaft gerettet hat. Und natürlich können wir über eine multipolare Welt sprechen, aber es gibt hier ein Problem: Jemand sollte die deutsche Wirtschaft retten. Irgendjemand sollte die europäische Wirtschaft retten. Denn eine multipolare Welt ist wichtig, aber die Realität ist heute, dass ein deutsches oder ungarisches Unternehmen, wenn es arbeitet, viermal so viel für Gas bezahlt, 300% mehr als ein amerikanisches Unternehmen. Und für Strom zahlt man doppelt so viel. Und es gibt kein so intelligentes Unternehmensmanagement, das den vierfachen oder zweifachen Unterschied bei den Energiepreisen beseitigen könnte. Wir sind also dem Untergang geweiht. Die europäische Wirtschaft ist bei diesen Energiepreisen dem Untergang geweiht. Und dadurch, dass das russische Gas und die russische Energie aus Europa verbannt worden sind, haben wir keine neue Strategie. Die alte Strategie funktioniert nicht und es gibt keine neue. Wir werden daran zugrunde gehen. Wir brauchen jemanden, der eine neue Wirtschaftsstrategie entwickelt, um die europäische Wirtschaft zu retten. Das wird nicht Ungarn sein. Das kann nur von den großen Jungs kommen, aber irgendjemand muss es tun. Multipolarismus ist ja schön und gut, aber wenn ich mir meine Gas- und Stromrechnung anschaue, dann muss man jetzt dort klug vorgehen, nicht in einem multipolaren Weltsystem.

Roger Köppel: Herr Schröder, ich wollte diese Frage eigentlich vermeiden, aber es ist auf eine Art eine offensichtliche Frage. Ich kann mich gut erinnern, 2004, da waren Sie Bundeskanzler. 2003, da haben sie in England geschrieben, Deutschland, der kranke Mann Europas. Sie sind gekommen mit Ihren Kollegen, Clement, Eichel, wie sie alle heißen, auch Steinmeier, und Sie haben die Agenda-Politik gemacht, und damit die Grundlage gelegt für Ihre Nachfolgerin, Angela Merkel die eigentlich die Früchte ernten konnte, von Ihrer Agenda-Politik. Jetzt wollte ich Sie schon fragen, nach dem, was Herr Orbán gesagt hat, wer rettet heute eigentlich Deutschland? Ja, das ist eine Frage, die stellen wir uns auch in der Schweiz, weil die Schweizer Wirtschaft, die hängt, und ich glaube, auch ein Teil der österreichischen, wobei die Österreicher, die sind eben schlauer, die orientieren sich stärker nach Osten, nach Ungarn, nach Polen, aber wir Schweizer, wir sind eben sehr große Deutschlandbefürworter, wir haben eben ziemlich viel mit Ihrer Wirtschaft zu tun, und diese Wirtschaft geht runter, und wer rettet Deutschland? Wem trauen Sie das zu?

Gerhard Schröder: Das ist eine Frage, die kann ich nicht beantworten. Ich mit meinen 80 Jahren jedenfalls nicht mehr.

Roger Köppel: Also Donald Trump ist ja auch schon 78. Also von dorther…

Gerhard Schröder: Ja, also verglichen mit mir, ein relativ junger Mann. Die Frage lässt sich ja nicht beantworten. Was wir bräuchten in Deutschland, das wäre ein ähnlicher Reformansatz, wie wir ihn damals, das habe ich ja nicht alleine gemacht, sondern dazu war eine Koalition bereit, die schwierig genug zusammenzubringen war, und schwierig genug zusammenzuhalten war, und man hat gegenwärtig – und das halte ich für ein zentrales Problem in Deutschland, was die Politik angeht – wirklich den Eindruck, dass man in einer Regierungskoalition mehr gegen sich selber kämpft als für die Frage, die Sie gestellt haben. Und deswegen kann ich Ihnen diese Frage nicht beantworten, wer das könnte. Ich kann nicht einmal sagen, versuchen wir es einmal mit der Opposition, denn die kenne ich auch.

Roger Köppel: Friedrich Merz, den kennen Sie ja auch noch von 2005. Das war ja der Fraktionschef. Mit dem haben Sie sich viele schöne Rededuelle geliefert. Aber ist Friedrich Merz der Mann, der Deutschland rettet, Herr Schröder?

Gerhard Schröder: Aber jetzt muss man auch Mal, wie man so sagt, die Kirche im Dorf lassen. Ich glaube nicht, dass Deutschland in einem Zustand ist, wo es gerettet werden muss. Wir haben immer noch eine der wirklich zentralen Ökonomien in Europa. Und wir haben immer noch einen Mittelstand in Deutschland, der weltweit akzeptiert wird. Meine Frau kommt aus Korea, und schreibt gerade – wenn ich das sagen darf – an einer Arbeit über die Frage, was eigentlich der deutsche Mittelstand für das wirtschaftliche Wohlergehen in Deutschland geleistet hat, und was kann man daraus lernen? Und auch diese Tatsache zeigt, dass man schon auf Deutschland guckt, ob wir uns aus der gegenwärtigen Situation befreien könnten oder auch nicht. Dass es dazu auch eine entschiedene politische Führung braucht, und keinen Streit unter den Koalitionsparteien, den wir jeden Tag in den Zeitungen nachvollziehen können, das ist ja klar. Aber sehen Sie es mir nach, wenn ich jetzt nicht auf einzelne Personen, und wenn sie auch Friedrich Merz heißen, gucke und sage: Die ist der neue Heiland für Deutschland. Ich glaube, das will er nicht einmal sein, wird er auch nicht.

Roger Köppel: Ja, bitte!

Es ist eine gute Nachricht, dass die deutsche Wirtschaft immer noch stark ist, aber, Herr Bundeskanzler, jemand muss die Frage doch beantworten: Wie wird der Energiepreis in der europäischen Wirtschaft mit dem der amerikanischen Wirtschaft gleichziehen? Wie wollen wir das schaffen? Jemand muss diese Frage beantworten, wenn nicht die Deutschen, dann jemand anderes, sonst gehen wir bankrott. Ich möchte dies nur immer und immer wieder wiederholen. Und wenn nicht die Deutschen, dann muss jemand anderes, aber irgendeine Art von Plan, eine Art von Strategie muss auf den Tisch gelegt werden. Die Zeit arbeitet gegen uns. Wir können nicht mit dem Vierfachen des Energiepreises konkurrieren, das ist einfach unmöglich! Wir werden daran zugrunde gehen.

Roger Köppel: Ich will jetzt nicht abheben ins Abstrakte und ins Multipolare, aber Sie müssen mir nachsehen, Herr Ministerpräsident, ich bin halt Journalist, nobody is perfect. Und die Frage lautet, wir haben‘s besprochen, wir haben die Vereinigten Staaten von Amerika. Es gibt Wahlen, die haben auch ihren Streit, aber es ist eine ganz starke, eine große, nach wie vor starke Nation, eine starke Demokratie, stärker auch als vermutlich einige Leute meinen, die glauben, da könne ein Trump die Demokratie aushebeln. Wir haben auf der anderen Seite ein Russland, das vielleicht stärker ist, als manche glauben, aber nicht so stark, wie vielleicht Präsident Putin glaubt. Wir haben diesen Drachen, China, diese unglaubliche wirtschaftliche Potenz, von der wir abhängen, wir haben die BRICS-Staaten, den Süden, der sagt: Wir haben die Nase voll von diesem arroganten Norden, von diesen Westlern da, die uns den ganzen Tag den Tarif durchgeben wollen! Wir haben Afrika, auch da gibt es Fortschritte. Und jetzt haben wir Europa. Da muss ich Ihnen sagen, da mache ich mir in bisschen Sorgen. Also wenn ich da in die Zukunft blicke, auch ich habe vier Kinder, wenn ich schaue, ja gut, was machen denn die da? Was ist denn die Zukunft von Europa? Sind wir sozusagen die Sehnsuchtsstation für alle Migranten aus Afrika? Ist das die Zukunft? Sind wir ein Anhängsel der USA? Sie sind jetzt EU-Ratspräsident, von Ihnen erwarten wir hier eine amtliche, offizielle Vision für Europa und die Europäische Union. Was ist die Zukunft von Europa? Was ist die Zukunft der EU? Hat sie überhaupt eine? Oder müssen dann am Schluss noch alle der Schweiz beitreten? Wäre das die Perspektive, Herr Orbán? Was meinen Sie?

Gerhard Schröder: Diese Frage kann doch nur ein Schweizer stellen.

Roger Köppel: Ja gut, ich muss hier auch meinen USP einbringen können als Schweizer.

Ich werde jetzt keine Vision skizzieren, aber ich möchte das Problem und die Lösung dafür benennen, denn worüber Sie sprechen, bringt das Problem hervor, dass Europa derzeit nicht in der Lage ist, seine eigene Führung zu lösen. Wir sprechen von einem Führungsproblem. In den von Ihnen genannten Ländern, Amerika, China, Russland, Indien, gibt es starke, stabile Führungsstrukturen und starke Führer. Die Frage ist: Warum bringt die Demokratie europäischer Prägung jetzt keine starken Führungspersönlichkeiten hervor? Darauf ist es nur eine oberflächliche Antwort, dass es daran liegt, dass die Bürokraten in Brüssel alles abwürgen. Das stimmt, aber warum erdrosseln wir, die Führungskräfte, sie nicht? Um also die Zukunft Europas zu skizzieren, müssen wir die Frage beantworten, ob die europäischen Demokratien, wie wir sie kennen, wieder eine starke europäische Führung hervorbringen können, mit einem Programm, einer Vision und einer Exekutive, mit Energie. Das ist die Frage! Ich denke, wir befinden uns gerade in der Phase der Geburtswehen. Wir stecken mittendrin, und deshalb können wir es nicht klar sehen, aber wenn wir uns auf einen Hochsitz begeben und die europäische Politik von dort aus betrachten – ich mache das manchmal zum Spaß, wir haben eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, und ich habe Zeit, das zu tun – dann sehe ich, dass die traditionelle Struktur der europäischen Politik, auf der europäischer Erfolg, europäische Parteiensysteme und starke Regierungen aufgebaut waren, im Verschwinden begriffen sind. Die Grundstruktur der europäischen Politik in den letzten vierzig bis fünfzig Jahren war die Linke, und es war die Rechte, und es gab starke Führer auf der Linken und starke Führer auf der Rechten, wie zum Beispiel Helmut Kohl und Gerhard Schröder, um ein Beispiel zu nennen. Aber auch in Frankreich. Aber das verschwindet jetzt, weil ganz neue Themen auf der Tagesordnung stehen. Nicht die traditionellen Themen Kapital, Arbeit, Verteilung, gerechte Löhne. Das sind wichtige Themen, aber sie sind nicht die wichtigsten Themen in den Köpfen der Menschen. Es sind neue Themen, die die Parteienlandschaft völlig neu gestalten. Was sind die Themen? Nun, da ist der Krieg. Es gibt die Migration, die uns schon seit zehn Jahren begleitet. Das ist keine Links-Rechts-Frage. Dann gibt es die ganze progressive, liberale, Gendersache, Familien, traditionelle Werte, progressive, liberale Gendersache. Die Menschen sind in der Politik sehr stark mit diesen Themen beschäftigt. Was wird mit ihrem Kind, ihrem Familienmodell? Wie wird es nach der Migration ein muslimisch-christliches Zusammenleben hier geben? Wird der Krieg enden? Das sind keine Links-Rechts-Fragen. So interpretiere ich auch das Ergebnis der österreichischen Wahlen. Und so interpretiere ich auch das Ergebnis der ungarischen Wahlen. Hier ist also ein traditionelles europäisches Rechts-Links-Parteiengefüge in Auflösung begriffen, und es muss jetzt etwas Neues entstehen. Wir erleben die Tage, in denen das geschieht, dieser Geburtsschmerz ist es jetzt, es sollte jetzt geboren werden. Das ist der Prozess, der in jedem Land vorangetrieben werden muss, damit neue politische Kräfte entstehen, die diese Fragen beantworten und eine neue Mehrheit schaffen können. Wir brauchen eine neue Mitte! Und ich glaube, dass die neue Mitte in den Köpfen und in den Herzen der Menschen schon da ist und dass sie mehr oder weniger wissen, was sie wollen, aber die politische Elite hat noch nicht begriffen, dass es eine neue Mehrheit gibt, eine neue Mitte, und dass sie in der Politik vertreten werden muss. Das ist noch nicht geschehen. Und die Folge davon ist, dass es keine starke Führung gibt, weil es keine starke parlamentarische Mehrheit gibt, keine starke Führung zu Hause und auch keine starke internationale Politik. Das ist es, worunter wir heute leiden. Und hier sind natürlich alle Länder wichtig, aber es gibt zwei Schlüsselländer: Deutschland und Frankreich. In diesen beiden Ländern muss dieser Wandel so schnell wie möglich stattfinden. Und dann wird es vielleicht jemanden geben, der eine Vision von Europa auf den Tisch legen kann, nicht als intellektuelles Abenteuer, wie ich es könnte, sondern mit einer Machtbasis, denn es muss eine deutsch-französische Vision sein – natürlich verbessert mit kleinen mitteleuropäischen Anmerkungen.

Roger Köppel: Ich habe soeben, Herr Orbán, ein Telefon bekommen vom Piloten Ihrer Militärmaschine hier in Wien und hat gesagt: „Um Himmels Willen, wo ist der Ministerpräsident? Wir haben dann bald einen Slot zum Abflug.” Wir müssen zum Schluss kommen, damit der nächste Termin nicht ins Stocken kommt. Aber ich möchte eine letzte Frage stellen, und meine Kollegen bitten, die Geschenke nach vorne zu bringen. Wir haben hier nämlich ganz großartige, Schweizer Geschenke für unsere Referenten. Bitte, nach vorne zu kommen. Aber eine Frage dann an Gerhard Schröder hier zum Abschluss. Wir haben es gehört, ein Führungsproblem in Europa, da draußen mächtige Raubtierstaaten, die da sich anschicken sich gegenseitig zu bekriegen. Sie überblicken ein ereignisreiches Leben. Was ist für Sie im Moment eigentlich der größte Lichtblick, der größte Hoffnungsschimmer für Europa, und vor allem für Deutschland?

Gerhard Schröder: Ich glaube, man kann nicht sagen: Wer ist das? Die oder der? Schon wenn man sich vorstellt, es gäbe einen einzigen, der das könnte, oder eine einzige, die das könnte, ist man auf dem falschen Dampfer. Wenn wir nicht hinbekommen, dass der Leistungswille im Volk wieder verankert wird, wie das nach Krisen, die wir dann nach den Kriegen gelöst haben, die wir mit der Agenda angegangen sind, auch nicht gelöst haben, wenn wir das nicht hinkriegen, dass wir Mehrheiten hinter einer gelegentlich schmerzhaften Politik, aber eine, die Perspektiven aufzeigt, versammelt, dann geht mehr kaputt, nämlich viel von Demokratie auch kaputt. Und dann gibt es wieder Sehnsucht nach dem einen großen Führer. Und das ist eine Katastrophe für unsere Gesellschaften. Und das haben wir doch in den letzten Jahrzehnten erlebt, und was auch sein muss, ist zum Beispiel, wenn ich über die Agenda noch ein letztes Mal reden darf, wir haben damals nicht gefragt: „Womit können wir die nächste Wahl gewinnen?” Wir haben gefragt: „Was sollen wir jetzt tun?” Natürlich haben wir es nicht aufgegeben, die nächste Wahl zu gewinnen, aber uns war klar, es ist jetzt die Agenda notwendiger, selbst wenn wir den Bach runtergehen, jetzt politisch gemeint, als diejenigen Individuen, die diese Politik formulieren. Das heißt gelegentlich muss die Einsicht in die wirklichen Interessen von Land und des Volkes größer sein als der Wille, politisch zu überleben. Und das muss man von demokratischer Führung erwarten. Dass man das für richtig erkennt. Dass man nicht will, dass man dafür, was man als richtig erkannt hat, politisch untergeht, das soll keiner wollen, das kann man auch von Politikern gar nicht erwarten, aber jedenfalls muss man das Risiko eingehen, dass man eine Wahl verliert, weil man das Richtige getan hat. Das ist der entscheidende Unterschied zu demokratischer Führung, die ja auch Führung braucht, die Demokratie. Also es muss nicht der Wille, politisch zu überleben, im Vordergrund stehen, sondern es muss der Wille, das zu tun, was für das Land notwendig ist, im Vordergrund stehen, selbst wenn man dabei die Wahl verliert. Das war die Agenda.

Roger Köppel: Ganz herzlichen Dank. Die 90 Minuten sind um. Bitte zum Abschluss noch einen großen Applaus für unsere Gäste, Ministerpräsident Viktor Orbán, und Bundeskanzler Gerhard Schröder. Ich danke Ihnen auch im Namen der Referenten. Noch ein kleines Wort zu unserem Geschenk: Das ist ein Schweizer Traditionsunternehmen, Ricola. Das sind Hustenbonbons. für eine starke, kräftige Stimme. These are sweets for Youtr voice, a swiss traditional product, that Your voice has to be heard in Europe. and Your voice has to be heard too. Ihre Stimme soll auch gehört werden. Danke.!

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