Interviews / Viktor Orbáns Interview in der Sendung „Guten Morgen Ungarn!” von Radio Kossuth
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Viktor Orbáns Interview in der Sendung „Guten Morgen Ungarn!” von Radio Kossuth

Zsolt Törőcsik: Neben dem russisch-ukrainischen Krieg entfaltete sich an den im weiten Sinne genommenen Grenzen Europas in der vergangenen Woche ein weiterer Konflikt, nachdem die palästinensische Terrororganisation Hamas einen blutigen Terrorangriff in Israel durchgeführt hat. Der Ministerpräsident des Landes, Benjamin Netanjahu erklärte, sie stünden im Krieg mit der Hamas. Guten Morgen! Ich begrüße Ministerpräsident Viktor Orbán im Studio. Guten Morgen!

Guten Morgen!

Ungarn und Israel sind Verbündete, in den vergangenen Jahren hat sich ein sehr enges Bündnis zwischen den beiden Ländern entwickelt. Wie bewerten Sie im Lichte dessen den erneuten Krieg?

Man kann ihn auch im Lichte dessen bewerten, doch würde ich mich der Frage eher von einem allgemeineren, humanen Gesichtspunkt annähern. Der Terror ist also inakzeptabel. Und wenn man den Abdruck dessen sieht, die Folgen, die Bilder, so besitzt das eine erschütternde Wirkung. Es ist jetzt also egal, wer mit wem befreundet und mit wem nicht ist. Das sind so brutale Dinge, durch die man einfach erschüttert wird. Das ist immer der erste Gedanke, den man hat, dass man mit denen mitfühlt, die diesen Angriff erlitten haben, und man betet für die Angehörigen, die Überlebenden, man steht überhaupt emotional auf der Seite der Opfer. Der zweite Gedanke, den man hat, ist, dass wir dem lieben Gott danken sollen, dass wir keine solche Probleme haben. Danken wir dem lieben Gott also dafür, dass wir im Frieden leben dürfen. Und der Politiker muss auch daran denken, wie man in solchen Situationen sieht, was für ein Wert der Frieden und die Stabilität sind, in denen wir leben, und es ist die Aufgabe unserer gewählten führenden Politiker, diese auch zu schützen. Im Lichte eines solchen Terrorangriffs ist es noch deutlicher erkennbar, dass der Frieden und die Sicherheit der Ungarn geschützt werden müssen. Das sind Werte, für die wir zum Teil dankbar sein sollen, zum anderen Teil sollten wir selbst auch alles tun, damit sie erhalten bleiben. Und danach kommt die Politik, wenn man darüber hinweg ist. Und tatsächlich ist die Situation, dass Ungarn schon immer gegen den Terrorismus war. Also unabhängig davon, auf welches Land die Terrorangriffe zielten, waren wir immer gegen die Terrororganisationen. Wir gehören zu der internationalen Gemeinschaft, die sich auch regelmäßig zusammensetzt und sich auch dann über die Schritte des internationalen Auftretens gegen den Terrorismus abstimmt, wenn dies irgendwo in Afghanistan geschieht, auch dann, wenn in einer von uns noch weiter entfernteren Region und auch dann, wenn das gerade in Israel, im Gazastreifen geschieht. Und dann formuliert man, worauf man doch hofft. Das erste, worauf wir hoffen, ist, dass wir einen jeden Ungarn herausholen können, der herauskommen möchte. Im Übrigen ist es nicht einfach, die Situation in solchen Momenten den sich dort aufhaltenden ungarischen Touristen – die die Gefahr noch nicht direkt verspüren – verständlich zu machen, dass sie von dort möglichst schnell herauskommen sollen. In solchen Momenten stehen die Fähigkeiten zur Verfügung, mit dem Flugzeug, dem Schiff, wie es möglich ist, müssen alle Ungarn herausgeholt werden. Wir sollten auch dankbar sein, dass wir vorerst keine Kenntnis davon haben, dass sich unter den Opfern auch Ungarn befinden würden. Man findet die Angehörigen vieler Nationen unter den Opfern, auch Bürger europäischer Länder. Vorerst scheinen wir niemanden verloren zu haben. Und da sagt man sich, dass wenn man ein Land mit einem Terrorangriff attackiert, dann geht den dortigen politischen Führern, in diesem Fall Ministerpräsidenten Netanjahu sicherlich durch den Kopf, dass es seine Pflicht gegenüber seinem eigenen Volk ist, alles zu tun, damit dies nicht noch einmal geschehen kann. Und tatsächlich müssen wir sagen, wenn jemand durch einen Terrorangriff betroffen ist, dann besitzt er das Recht, Schritte im Interesse dessen zu unternehmen, damit dies nicht noch einmal vorkommen kann, die eigenen Bürger nicht noch einmal Opfer einer Terroraktion werden. Und der dritte Gedanke ist in solchen Situationen, dass wir zugleich den Konflikt lokalisieren, also soweit wie möglich limitieren, ihn zwischen Schranken drängen müssen, denn jetzt gibt es zwar Krieg, doch dieser Krieg ist gegen den Terrorismus, genauso wie das die Amerikaner gemacht haben, wenn wir uns daran zurückerinnern. Jetzt gibt es noch keinen zwischenstaatlichen Krieg. Die Gefahr ist, dass Israel mit irgendeinem benachbarten arabischen Land als Ergebnis oder infolge der Terroraktion in den Kriegszustand gerät. Na, dann gäbe es große Probleme! Also ein arabisch-israelischer, zwischenstaatlicher Krieg würde die gesamte Region destabilisieren, er würde alles in einem Maß in der Weltpolitik erschüttern, dass wir die Wellen dieses Bebens auch noch in Ungarn spüren würden. Deshalb ist es die Aufgabe der ungarischen Diplomatie, während sie das Recht Israels anerkennt, sich zu verteidigen, und, noch einmal, damit sich dies nicht wiederholen kann, eine Deeskalationspolitik – so nennt man das in der internationalen Diplomatie – zu verfolgen, damit kein zwischenstaatlicher Krieg entsteht.

Wie kann man das verhindern? Denn im weitesten Sinn gibt es in unserer Umgebung, in unserer Nachbarschaft einen Krieg und es gibt einen, an den europäischen Grenzen tobenden oder sich entfaltenden Konflikt. Was bedeutet dies unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit für Ungarn oder Europa?

Wir sollten uns vielleicht in Erinnerung rufen, dass sich die Dinge in der Ecke der Welt gerade gut zu gestalten begannen. Also in der Zeit von Herrn Präsident Trump, in der Zeit seines Mandats als amerikanischer Präsident hatte sich das System der arabisch-israelischen Beziehungen erheblich verbessert. Vor ein paar Jahren war die Lage viel schlimmer. Die Lockerung oder Entspannung oder die Abnahme der Spannung in den Beziehungen der arabischen Staaten und des Staates Israel, die Suche nach Verfahrensweisen der Zusammenarbeit charakterisierte die vergangenen Jahre. Und es kam auch zu Verbesserungen in solchen Beziehungen zwischen Israel und den arabischen Staaten, an die vor einigen Jahren vielleicht noch niemand einmal gedacht hätte. Die Dinge begannen gerade in die richtige Richtung zu laufen. Ob die Terroraktion damit im Zusammenhang steht, ob sie sie gerade deshalb durchgeführt haben, damit dieser Prozess nicht weiter voranschreite, oder nicht, das ist erst Spekulation, darüber haben wir keine geheimdienstlichen Informationen. Wir sind uns also dessen sicher, dass man entgegen des Terrorangriffs alles von den Ergebnissen der Annäherung der letzten Jahre retten müsste, was möglich ist, auch wenn das heute nicht als einfach erscheint. Jetzt ist die nächste Sache, die erschütternd ist, und die die Alarmklingel in unseren Köpfen schrillen lassen müsste, dass es in ganz Europa Sympathiekundgebungen für die Terroristen gibt. Man hat das auch in Ungarn versucht, doch hier darf man ja keine Sympathiekundgebung für Terrororganisationen veranstalten, weil das an sich schon eine Terrorgefahr bedeuten würde für die ungarischen Bürger, also sollten wir das vergessen. Hier ist noch nicht die Zeit dafür, wir werden auch keinerlei Erlaubnis dazu geben, wir, d.h. die Regierung wird die ihr gegebenen Rechte nutzen. Doch in Westeuropa können sie an zahlreichen Orten die Sympathiekundgebungen für den Terror nicht verhindern. Das bedeutet, in Westeuropa gibt es Menschen, und zwar anscheinend in großer Zahl, die im Übrigen solche Aktionen gutheißen. Und da man in der Zeit der Migrationskrise in großer Zahl Massen ohne Kontrolle in die westeuropäischen Länder hineingelassen hat, sind jetzt dort unter ihnen auch die durch die Hamas Beauftragten. Und das stellt für alle westeuropäischen Länder ein direktes, ernsthaftes Risiko dar. Ich sage erneut, danken wir dem lieben Gott, dass wir 2015 bei Trost waren und das Herz am rechten Fleck hatten, und wir sowohl den Zaun als auch die juristischen Schranken errichtet haben, mit deren Hilfe wir die mit der Migration einhergehende, notwendigerweise einhergehende Terrorgefahr von Ungarn fernhalten konnten.

In der Tat haben in der vergangenen Stunde auch unsere Korrespondenten darüber berichtet, dass es in Schweden, Großbritannien und in zahlreichen europäischen Großstädten Sympathiekundgebungen für die Hamas gab und diese Korrespondenten berichteten auch über die Ängste der jüdischen Gemeinschaft, und übrigens war auch Rabbi Slomó Köves vorhin hier und er sagte, er beobachte mit Erschütterung das, was in Westeuropa geschieht. Diese Ereignisse…

Verzeihung! Das ist auch für Ungarn wichtig, denn wir sollten nicht vergessen, in Ungarn lebt eine der größten jüdischen Gemeinschaften in Europa. Natürlich ist das eine bunte Welt, es gibt auch Orthodoxe und auch Neologe, also genau so wie auch in Israel, auch hier in Ungarn ist das eine sehr bunte Welt. Sicherlich vertreten diese Menschen auch unterschiedliche politische Ansichten, aber sie alle sind Bürger Ungarns. Sie sind ungarische Staatsbürger und der ungarische Staat muss sie schützen. Man kann also nicht zulassen, dass sich wegen ihrer Abstammung oder ihres Glaubens ungarische Menschen – was für ein Glauben dies und was für eine Abstammung diese auch immer sei –, ungarische Staatsbürger sich in Gefahr versetzt fühlen. Das muss man verhindern! Das ist ein sicheres Land. Es stimmt zwar, wir haben das Zeitalter der Gefahren betreten, wenn Sie zurückdenken: Pandemie, russisch-ukrainischer Krieg, jetzt ein Terrorangriff in Israel, wir leben im Zeitalter der Gefahren, doch das bedeutet nicht, dass wir uns damit abfinden dürften, dass das Niveau der Sicherheit, das Niveau der Sicherheit unseres Lebens in Ungarn abnimmt. Auch im Zeitalter der Gefahren muss der ungarische Staat sich bewähren.

Ja, und in Westeuropa wird ja ein dem entgegengesetzter Prozess sichtbar, genau aus dem Grund, weil die jüdischen Gemeinschaften Angst haben. Ändern diese Geschehnisse, die wir in der vergangenen einen Woche in Westeuropa gesehen haben etwas an der Körperhaltung, mit der die EU der Frage der Migration gegenübersteht? Denn inzwischen hat man in der vergangenen Woche auch die bisher umstrittenen Teile des Migrationspaktes angenommen, trotz der Gegenstimmen Ungarns und Polens.

Nein, sie ändern nichts. Bei allem Respekt muss ich sagen, sie sind blind, also der liebe Gott hat ihnen den klaren Blick genommen. Also heute werden in Brüssel Regeln aufgestellt, die auch uns dazu zwingen wollen – das wird die große Schlacht in den kommenden Monaten sein –, jene Menschen, jene Migranten, die an der Südgrenze Ungarns gewalttätig auftreten, Waffen gegen die ungarischen Grenzer gebrauchen, jene Menschen sollen wir auf das Landesgebiet Ungarns hereinlassen. Sie wollen also, dass auch wir Teil an dem Sicherheitsrisiko haben sollen, unter dem sie leiden wegen der im Laufe der vorherigen Jahre gefällten falschen Entscheidungen. Wir wollen das nicht, wir wollen Anteil am Guten haben, nicht am Schlechten. Bei der Europäischen Union geht es nicht darum, die schlechten Dinge untereinander zu verteilen, sondern dass wir gemeinsam mehr schaffen und vorwärtskommen, weil wir mehr gute Dinge herstellen können. Jetzt stellen sie keine guten, sondern schlechte Dinge dadurch her, indem sie die Migranten hereinlassen, den polnisch-ungarischen Widerstand beiseitegeschoben haben und noch stärker das Verteilungsprinzip forcierend die Migranten nach Ungarn bzw. Europa einladen. Die EU hat beschlossen, die illegal nach Europa kommenden Migranten zu verteilen. Auch wir müssten mehrere tausend aufnehmen. Auch wir müssten – laut des jetzigen Beschlusses der EU – ein Flüchtlingslager für etwa zehntausend Personen errichten, ein Migrantenghetto. und wir müssten die Migranten für eine Weile dort halten und sie danach hinauslassen. Sie wollen uns also eine schlechte Sache aufzwingen. Die Situation ist absurd. Wenn wir heute einen Blick auf die Landkarte der Flüchtlings-, der Migrationspolitik Europas werfen, dann werden wir sehen., dass sich nur ein Modell bewährt hat. Man hat in Europa vieles versucht, um die Migration zu bremsen, aber nur ein einziges Modell hat sich bewährt: das ungarische. Die ungarische Grenze kann man nicht illegal überqueren. Und gegenüber den sie illegal Übertretenden existiert die physische und juristische Grenzsperre. Sie sickern zwar durch, das kommt vor, doch wir halten sie mit den größten Kräften im Zaum. Wenn wir sie nicht im Zaum halten würden, kämen sie zu Hunderttausenden nach Ungarn und auch nach Europa. Wir können also sagen, dass das italienische Modell nicht funktioniert, das griechische Modell teilweise funktioniert, das französische überhaupt nicht. Es gibt ein einziges Modell, das funktioniert, das ungarische. Hier gibt es keine Migranten. Zero! Und es wird sie auch nicht geben. Anstatt dass die EU das ungarische Know-how, das ungarische Wissen, die ungarische Lösung übernehmen würde – um es so zu formulieren – und sie mit bestimmten Abweichungen entsprechend den nationalen Eigenheiten auch anderswo in Europa selber anwenden würde, will sie unser gut funktionierendes Modell zerstören. Früher konnte ich das verteidigen, da wir zwar mit Schwierigkeiten, aber doch dreimal auf der Ratssitzung der europäischen Ministerpräsidenten unseren Vorschlag durchgebracht haben, dass man nur einstimmig Migrationsrechtsvorschriften aufstellen kann, und deshalb haben sie über Jahre, da wir zu keinem Beschluss kommen konnten, zumindest das nicht zerstören können, was wir aufgebaut haben. Doch jetzt haben sie juristische Gewalt angewendet, haben die frühere, schriftliche Vereinbarung beiseitegeschoben und uns die Rechtsvorschriften aufgezwungen. Wir müssen uns dagegen verteidigen, wir müssen uns erneut – jetzt mit anderen Mitteln – schützen. Ich sehe kaum ein anderes Instrument, als dass wir uns politisch verteidigen müssen. Natürlich vollstrecken wir nichts, was die Sicherheit der Ungarn gefährden würde, doch wird dies zu wenig sein. Wir müssen in Brüssel eine politische Veränderung erreichen. Die gegenwärtigen führenden Politiker müssen gehen. Mit solchen Menschen werden wir Ungarn nicht verteidigen können, denn Brüssel kommt uns nicht entgegen, sondern fällt uns in den Rücken. Es will jene Menschen hereinlassen, die bewiesenermaßen mit Gewalt gegen die ungarischen Grenzwächter auftreten. Das können wir nicht erlauben, deshalb müssen wir bei den nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament, die es im nächsten Jahr geben wird, unbedingt eine bedeutende Veränderung in der EU erreichen, ansonsten stellt Brüssel ständig ein Sicherheitsrisiko für Ungarn dar. Wir müssen sie also aus unserem eigenen Sicherheitssystem ausschalten, denn Brüssel hilft nicht, sondern es zerstört.

Ja, aber sie möchten dies noch vor den Wahlen zum Europäischen Parlament annehmen lassen. Ist dann dies der Grund für ihre Eile, dass auch sie Angst vor der politischen Veränderung haben?

Ja, auch sie wissen genau, dass die Mehrheit der europäischen Menschen – meiner Ansicht nach die große Mehrheit – uns zustimmt. Wenn Sie also einen westeuropäischen Bürger fragen, was für eine Migrationssituation er sich wünscht, dann wird deren große Mehrheit sagen, eine solche wie in Ungarn, es soll hier keinen einzigen illegalen Einwanderer geben, Null, niemand soll da sein. Jetzt da man sie hereingelassen hat, jetzt hoffen sie darauf, dass sie sie dann irgendjemand mitnimmt, das nennen sie Verteilung. Sie haben ihre Grenzen nicht schützen können, die illegalen Migranten strömten herein und strömen auch seitdem herein, unentwegt. Diese deuten die Brüsseler Regeln als eine Einladung, denn wenn man irgendwo in einer ziemlich hoffnungslosen Lage sitzt und man hört, dass wenn man illegal nach Europa hineingelangt, dann wird man unter den Mitgliedsstaaten verteilt, da geht man los. Jetzt haben wir, jetzt hat Brüssel also ihnen einen Einladungsbrief geschickt. Wenn Sie also einen westlichen Menschen fragen, wird er sagen: „Das wollen wir nicht und die Grenzen müssen geschlossen werden, so wie das die Ungarn machen.“ Und die Führer der EU machen genau das Gegenteil hiervon, sie wissen also selbst, dass sie im Gegensatz zu ihrem eigenen Volk stehen. Und Ungarn ist jene Stimme, die heute in Europa allein in der Lage ist, im Interesse der Menschen zu sprechen. Nur bei uns hat es eine Volksabstimmung gegeben und jetzt am Wochenende wird es bei den Polen eine über die Frage der Migration geben. Nirgendwo anders hat man die Menschen darüber gefragt, was sie möchten, wie sie in ihrer eigenen Heimat diese Frage klären wollen. Nur wir waren in dieser Situation, wir haben das getan, deshalb stehen wir auf sehr stabilen Füßen, wir verteidigen mit einer demokratischen Entscheidung die ungarische physikalische und juristische Grenzsperre.

In den vergangenen Tagen sind auch frische Wirtschaftsdaten gekommen. Im September ist die Inflation auf 12,2 Prozent zurückgegangen, von dem Maximum im Januar von 25,7 Prozent. Wir haben es auch hier verfolgt, alle zwei Wochen, wie sie abgenommen hat. Gibt es einen Faktor, der es bremsen könnte oder bremst, dass wir in den kommenden Monaten das Ziel von unter zehn Prozent erreichen?

Jetzt sehe ich keinen solchen Faktor. Wir mussten irgendwann zu Beginn des Jahres einen schwierigen Entschluss fällen, denn traditionell gehört ja der Kampf gegen die Inflation in den Zuständigkeitsbereich der Notenbank, doch stehen wir hier einer derart großen internationalen Inflationssintflut gegenüber, die die Notenbank mit ihren kleinen Eimern allein nicht auffangen konnte, hier waren ernsthaftere Instrumente nötig und so musste die Regierung die Aufgabe des Kampfes gegen die Inflation und auch die Verantwortung dafür übernehmen. Die Notenbank versieht ihre Aufgabe, doch das hätte diese Sintflut nicht verhindern können, deshalb musste die Regierung Schritte unternehmen. Wir haben Maßnahmen eingeleitet. Ich behaupte nicht, dass diese unter allen Umständen allen Gesichtspunkten des guten Geschmacks entsprechen, Preisstopps usw., man musste also auch Instrumente einsetzen, die dem Wirken der Wirtschaft fremd sind, wir mussten in die Wirtschaft, in das Gewebe der Wirtschaft eingreifen, im Interesse der Heilung auch Schäden verursachend, doch hat das Ergebnisse gezeigt. Also hat sich schließlich gezeigt, dass die Diagnose richtig war und auch der medizinische Eingriff richtig. Wir sind also von den 16 Prozent des August jetzt im September auf 12 Prozent heruntergekommen und, soweit ich das sehe, werden wir bis November-Dezember die einstellige Inflation haben. Das wäre soweit auch in Ordnung, das beunruhigt mich nicht mehr, ich betrachte das schon so, dass wir uns jetzt schon auf der Bahn befinden, auf der man vorangehen muss. Wir hatten ja auch eine größere Ambition als diese, die wir doch nicht erreichen konnten. Wir hatten uns gewünscht, dass während wir gegen die Inflation kämpfen, das Wirtschaftswachstum zugleich auch auf einem relativ hohen Niveau verbleiben soll. Und das ging nicht. Es hat sich also herausgestellt, dass wir dann jetzt entweder die Inflation an die erste Stelle setzen oder das Wirtschaftswachstum, die beiden gemeinsam – das geht nicht. Wir hätten das gerne getan. Jetzt waren wir deshalb gezwungen, unsere Strategie zu ändern, und wir haben beschlossen, dass 2023 das Jahr der Niederringung der Inflation sein wird, auch wenn das auf der Seite des Wirtschaftswachstums einen Verlust zum Ergebnis haben wird, doch ist das am wichtigsten. Und 2024 starten wir erneut das Wirtschaftswachstum. Die beiden Dinge gingen nicht gleichzeitig, man musste die Aufgaben nacheinander angehen. 2024 werden wir dann ein hohes Wirtschaftswachstum anpeilen.

Auf welche Weise sehen Sie dies als erreichbar an? Denn das ist doch zu sehen, wie die europäischen Länder nacheinander ihre Wachstumsaussichten nach unten korrigieren. Der deutsche Wirtschaftsminister zum Beispiel hat dieser Tage mitgeteilt, sie hätten bisher ein Wachstum erwartet und jetzt würden sie für dieses Jahr mit einer Abnahme der Wirtschaft rechnen.

Es wird nicht einfach sein, weil in einem Umfeld, in dem die anderen nicht wachsen, da fällt es dir schwer, selber zu wachsen. Besonders im Fall eines Landes, dessen Binnenmarkt klein ist, das ist ein Markt von zehn Millionen Menschen und ein Großteil unserer Wirtschaftsleistung entspringt dem, dass wir zu Hause produzieren und im Ausland verkaufen. Doch wenn im Ausland keine Käufer vorhanden sind, weil es dort kein Wachstum gibt, dann bleibst du hier auf deinen eigenen Produkten sitzen. Und deshalb ist es wichtig, dass ein Land in solchen Momenten nicht auf einem einzigen Bein steht. Also für uns ist die deutsche Wirtschaft wichtig, die Europäische Union ist auch weiterhin bestimmend und primär, doch müssen wir in Richtung aller Märkte der Welt offenbleiben. Deshalb gibt es heute in der Welt eine große Diskussion, in der es darum geht, ob man die Weltwirtschaft in zwei Teile, eine westliche und eine östliche Weltwirtschaft teilen sollte oder ob man eher auch weiterhin der Logik der Verbindung folgen sollte, die man als Konnektivität bezeichnet und das Interesse der ungarischen Wirtschaft ist eindeutig die Verbindung. Deshalb werde ich z.B. in der kommenden Woche auf eine längere Reise gehen, die auch mehrere Verhandlungen beinhalten wird, nach China. Für uns sind alle Märkte der Welt von Interesse. Von Vietnam über China bis Südamerika ist alles wichtig, damit wir unsere Produkte verkaufen können. Das ist eine große Aufgabe nicht nur für die Geschäftsleute, sondern auch für den ungarischen Staat. Der sich mit dem Außenhandel beschäftigende Teil des ungarischen Staates steht im kommenden Jahr vor einer ernsthaften Aufgabe. Man muss zwei Dinge tun: Man muss in Ungarn Investitionen schaffen und danach müssen jene Produkte verkauft werden. Und der Staat wird auf beiden Gebieten, bei der Unterstützung der Investitionen und der Platzierung der Produkte in den kommenden Jahren Aufgaben haben.

Diesem Ziel, dem Ausbau von wirtschaftlichen Beziehungen diente auch der Besuch in Georgien in den vergangenen beiden Tagen? Was für Ergebnisse gelang es hier zu erreichen?

Hier war bzw. ist die Hauptfrage, ob die Europäische Union in ihrem gegenwärtigen, geschundenen Zustand in der Lage sein wird, sich mit weiteren Regionen auf wirtschaftlich gewinnbringende Weise zu verbinden. Dieses Land, über das wir reden, Georgien, wie wir Ungarn es kennen: Grusinien, liegt ja im Kaukasus, auf der anderen Seite des Schwarzen Meeres. Und die Frage ist, ob sich die Welt des Kaukasus auf wirtschaftlich rationale Weise mit der Welt Europas verknüpfen kann. Dem stehen die Georgier am nächsten, da gibt es eine der europäischen ähnliche politische Einrichtung, dort gibt es Institutionen, wie wir sie kennen. Das ist ein europäisches Land, es steht auf christlicher Grundlage, und es ist ein wichtiger Durchgangsabschnitt, ein Durchgangsgebiet zwischen den anderen Teilen des Kaukasus und Europa. Wir haben ein gemeinsames großes Programm, so etwas hat die Welt noch nicht unternommen: In Aserbaidschan – das ist ebenfalls die gleiche Region – hergestellte Grüne Energie wollen wir über Georgien, Rumänien und Ungarn nach Europa hereinbringen. Dazu muss ein mehr als tausend Kilometer langes, unter dem Schwarzen Meer verlaufendes Hochspannungskabel verlegt und die gesamte dazu notwendige Infrastruktur errichtet werden. Das unterstützt auch die Europäische Union, das ist ein großes Programm der Europäischen Union. Man kann es innerhalb einiger Jahre verwirklichen, das wird für die dort lebenden Menschen gut sein, das wird für die Sicherheit Ungarns, für seine Energieversorgung und Sicherheit gut sein, und es wird für ganz Europa gut sein. Wir haben also ein großes Flaggschiffprogramm, das wir gemeinsam mit ihnen durchführen wollen. Wir hoffen, dass die EU in diesen problematischen, verworrenen Zeiten keinen Rückzieher macht, weiß der Himmel, was in den Köpfen der Brüsseler vorgeht, doch das ist ein ernsthaftes, gutes Programm, es lohnt sich, es zu Ende zu bringen.

Die vergangenen Wochen beinhalteten nicht nur negative Nachrichten, sondern auch solche über ungarische Erfolge, denn zuerst hat Katalin Karikó den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin und dann Ferenc Krausz den Nobelpreis für Physik erhalten. Viele Stimmen haben diese Preise auf vielerlei Weise in dem Zeitraum seitdem gedeutet. Was ist Ihrer Ansicht nach die wichtigste Botschaft dieses ungarischen Erfolges für die ungarische Gesellschaft und in erster Linie für die jungen Leute?

Sicherlich bin ich auch voreingenommen für die Ungarn, wenn ich die Welt betrachte. Sicherlich gibt es für jeden etwas, was er bei diesen fantastischen Geschichten als seinem Herzen nahe stehend empfindet. Manche die Biologie, andere die Physik, manche die Rettung von Menschenleben, denn beide, selbst unser Nobelpreisträger für Physik ist irgendwie mit der Biologie verbunden. Jeder Ungar freut sich über diese Sache, selbst wenn ich keine Ahnung habe, was ein Attosekunden-Lichtpuls ist, trotzdem nehme ich an, dass das eine große Sache sein muss. Doch meinem Herzen steht der Umstand am nächsten, dass diese beiden Wissenschaftler, dies zwei ungarische Wissenschaftler sind, die aus dem tiefen Ungarn kommen. Denn das zeigt jene unglaubliche Lebenskraft, die in uns, Ungarn steckt, und die wir zeitweilig vergessen, und wir deshalb nicht jene gute Meinung über uns selbst haben, die wir haben könnten. Es ist also nicht das Problem des Ungarn, dass er eine zu gute Meinung über sich selbst hat, sondern vielmehr, dass er sich selbst unterschätzt. Und hier stehen wir zwei Nobelpreisträgern gegenüber, die eine von ihnen kommt irgendwoher aus der Kun–Jász-Gegend und der andere kommt aus Mór: das ist eine schwäbische, eine ungarndeutsche Gegend. Also von Orten, nicht aus der Budapester Innenstadt, und wir sprechen nicht über die Kinder von gutsituierten Familien, die früher ihre Mittelschulen und dann ihr Studium an amerikanischen und europäischen Universitäten absolviert haben, sondern über die Welt des tiefen Ungarn, in die auf einmal solche Köpfe geboren werden, die man danach nur mit Bewunderung beobachten kann. Und das geschieht in Ungarn. Und das kommt nicht das erste Mal vor und das ist nicht nur in der Wissenschaft so. Also meiner Ansicht nach ist das Talent, das Wissen, das in diesem Volk steckt, wenn es eine gute Politik und gutes Wetter und einen glücklichen historischen Zeitgeist gibt, dann kommen sie hervor, dann kann man sie hervorlocken. Und das ist unsere große Reserve. Also muss man deshalb keine Angst haben. Also müssen die Ungarn, ganz gleich in welch schwierigen Zeiten wir auch leben, niemals Angst haben, weil fantastische Köpfe geboren werden, irgendwo draußen, an der Peripherie, den Regionen des tiefen Ungarn, die, wenn sie eine kleine Möglichkeit erhalten, in dem Moment aufsteigen und sich unter den besten der Welt wiederfinden. So sind unsere Sportler, aber so sind auch unsere Wissenschaftler und ich glaube, auch die Kultur kann eine ganze Reihe von Persönlichkeiten so großen Formats aufzeigen. Das ist also eine gute Ermunterung für die Zukunft. Diese beiden Nobel-Preise sagen uns, habt keine Angst, Ungarn, ihr seid ausreichend talentiert, um auch in den schwierigsten Zeiten erfolgreich zu sein.Ich befragte in der vergangenen halben Stunde Ministerpräsident Viktor Orbán über den Terrorangriff in Israel, die Brüsseler Migrationspolitik, die Lage der ungarischen Wirtschaft und unsere frisch ausgezeichneten 

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