Interviews / Viktor Orbáns Interview in der italienischen TageszeitungIl Giornale
SHARE

Viktor Orbáns Interview in der italienischen TageszeitungIl Giornale

Viktor Orbán empfängt mich in einem Raum des Karmeliterklosters in Budapest, dem heutigen Amtssitz des ungarischen Ministerpräsidenten, um uns ein Kreis alter Bücher und ein Globus, mit einer Karte Großungarns (aus der Zeit vor dem Friedensvertrag von Trianon 1920, bei dem Ungarn einen Großteil seines Territoriums verlor). Er trägt Jeans, ein blaues Hemd und ein blaues Jackett: „Ich muss in eine Stadt in Rumänien fahren, um für die ungarische Gemeinschaft bei den Wahlen zum Europäischen Parlament zu werben“. In Westrumänien leben über eine Million Ungarn mit ungarischem Pass, die historisch gesehen zur Wählerbaisis des Fidesz gehören.

Viktor Orbán ist ein fließender Strom, und als er mich begrüßt, fragt er mich, ob ich den Friedensmarsch vom letzten Wochenende in Budapest gesehen habe: „Es war ein großes Ereignis, das aus der Zivilgesellschaft zur Verteidigung des Friedens und der Würde entstanden ist“, erklärt der ungarische Ministerpräsident und fügt hinzu: „Sie hätten die Menge der Menschen sehen sollen, die anwesend waren, Politik kann nicht nur in den sozialen Medien stattfinden, wir müssen beweisen, dass wir die Unterstützung der Menschen haben“. Und Orbán hat, ob es einem gefällt oder nicht, viel Unterstützung in Ungarn.

Herr Ministerpräsident, in wenigen Tagen finden die Wahlen zum Europäischen Parlament statt, was erwarten Sie von diesen Wahlen? Halten Sie eine Änderung der Mehrheitsverhältnisse in Brüssel für möglich?

Ich erwarte vor allem zwei Dinge: eine Stärkung der Demokratie und eine neue rechtsgerichtete Mehrheit. Diese Europäische Kommission hat in den Bereichen Landwirtschaft, Krieg, Einwanderung und Wirtschaft versagt, und jetzt muss sie gehen. Stärkung der Demokratie bedeutet, eine andere Kommission zu wählen als die jetzige, die die schlechteste ist, seit ich im Amt bin. Gleichzeitig brauchen wir eine Wiedergeburt der Rechten in Europa, wir haben eine historische Chance, die Mehrheitsverhältnisse zu ändern. Die rechten Parteien müssen zusammenarbeiten, wir sind in den Händen von zwei Frauen [d.h. Giorgia Meloni und Marine Le Pen – Anm. d. Red.], die zu einer Vereinbarung gelangen müssen.

Wird sich der Fidesz der europäischen konservativen ECR-Fraktion unter der Führung von Giorgia Meloni anschließen?

Wir würden gerne der ECR beitreten, obwohl wir uns bewusst sind, dass es Themen gibt, die uns von einigen der Mitgliedsparteien trennen könnten, angefangen bei den Ansichten über den Krieg in der Ukraine.

Kommt nach dem Austritt der AfD ein Beitritt zur Fraktion „Identität und Demokratie“ in Frage?

Wir haben mehrere Optionen, sogar die Hypothese einer neuen großen europäischen rechten Gruppierung, die Priorität liegt darin, etwas Nützliches für Europa zu tun. 

In der letzten europäischen Legislaturperiode wurde gegen Ungarn ein Vertragsverletzungsverfahren wegen Verletzung der Rechtsstaatlichkeit eingeleitet, glauben Sie, dass dies eine politische Entscheidung der EU war?

Die EU benutzt die Mittel der Erpressung, gegen Italien wendet sie wirtschaftliche und finanzielle Druckmittel wegen seiner hohen Staatsverschuldung an und gegen uns in Bezug auf Gender und Migration. Das ist eine politische Frage und hat nichts mit der Achtung der Rechtsstaatlichkeit zu tun. Wir widerstehen, wir haben Strategien, um unsere Souveränität zu verteidigen. Bei Italien ist das anders, ohne Italien kann es keine Europäische Union geben, aber wir sind eine kleine Nation. Aber unser Kampf gegen den Brüsseler Radikalismus kann ein Beispiel für viele andere europäische Länder sein.

Glauben Sie, dass die Staatsverschuldung ein Problem für Italien ist?

Die hohe Staatsverschuldung ist ein Problem für die nationale Souveränität. Wir haben sie von 83 % des GDP gesenkt, und vor COVID lagen wir unter 70 %, das ist eine Frage der Unabhängigkeit. Bei Ihnen ist das natürlich anders, denn Sie haben den Euro und damit keinen währungspolitischen Spielraum.

Ungarn wird vorgeworfen, die Ukraine nicht zu unterstützen, ein Vorwurf, den Sie immer zurückgewiesen haben. Könnten Sie den italienischen Lesern erklären, wie die ungarische Position zum Krieg in der Ukraine ist?

Ungarn grenzt an die Ukraine, das ist nicht irgendein Krieg, es ist an unserer Grenze. Italien ist geografisch weit weg, für Sie ist es ganz anders. Es gibt ungarische Bürger der ungarischen Minderheit in der Ukraine, die in der ukrainischen Armee kämpfen und ihr Leben verlieren. Wir sind die einzige EU-Nation, deren Bürger in der Ukraine ihr Leben verlieren. Der Krieg wurde von Russland angezettelt, daran gibt es keinen Zweifel, aber wir müssen uns fragen, wie wir uns verhalten sollen. Wir stehen am Scheideweg: den Konflikt isolieren und einen diplomatischen Ausweg suchen oder tiefer in den Krieg eintauchen. Wenn wir es zulassen, dass die Ukraine Russland mit Waffen angreift, die auch von Italien geliefert wurden, wird eine starke russische Reaktion die Folge sein, und das Risiko einer NATO-Beteiligung wird nur noch einen Schritt entfernt sein. Die EU-Strategie ist zum Scheitern verurteilt.

Die Einwanderung ist eine der größten Herausforderungen für die europäischen Nationen. Wie kann die illegale Einwanderung Ihrer Meinung nach gestoppt werden?

Die Europäische Kommission hat auch im Bereich der Einwanderung versagt und war nicht in der Lage, eine andere Lösung zu finden, als Einwanderungsquoten vorzuschlagen, die zwischen den europäischen Ländern zu verwalten sind. Dies ist jedoch, abgesehen davon, dass ich damit überhaupt nicht einverstanden bin, keine Lösung für das Einwanderungsproblem, das wir ein für alle Mal lösen müssen.

Was ist das ungarische Rezept?

Von Anfang an habe ich unseren europäischen Partnern gesagt: Ungarn sagt Nein zu den neuen illegalen Einwanderern, Punkt. Unsere Position ist einfach: Wir sind eine Nation von zehn Millionen Menschen, wir wollen unsere Identität und unser stabiles Wohlfahrtssystem bewahren. Ich verteidige die Grenzen unseres Landes, denn meine Aufgabe als Regierungschef ist es, die Ungarn zu schützen.

Was ist Ihrer Meinung nach die Lösung für die unkontrollierte Migration aus Nordafrika nach Europa?

Wir müssen ihnen in ihrer Heimat helfen, durch Zusammenarbeit und Entwicklungsprojekte zwischen der Europäischen Union und Afrika. Als Christ wird mir jedes Mal schlecht, wenn ich Menschen leiden sehe, aber wir sagen nicht die Wahrheit, wenn wir sagen, dass die Lösung für ihre Probleme darin besteht, dass sie nach Europa kommen. Wie Tony Abbott [der australische Premierminister, der das No Way-Projekt ins Leben gerufen hat – Anm. d. Red.] sagte, müssen wir auf europäischer Ebene verhindern, dass illegale Migranten in das europäische Hoheitsgebiet eindringen; niemand sollte ohne die Erlaubnis der Mitgliedstaaten nach Europa kommen.

In Italien ist der Fall Ilaria Salis sehr umstritten. Die italienische Linke wirft Ungarn vor, die Rechte seiner Gefangenen nicht zu respektieren und die Justiz sei nicht unabhängig – was sagen Sie dazu?

Wir Ungarn lieben die Italiener, wir lieben italienische Frauen, also gibt es keine Vorurteile ihr gegenüber. Wir mögen es nicht, wenn ein Ausländer nach Ungarn kommt, um ein Verbrechen zu begehen, indem man ungarische Bürger verprügelt. Ich kenne das italienische Justizsystem nicht, aber so funktioniert es bei uns, und ich sage dies allen Italienern, die über die Behandlung Ihrer Mitbürgerin Ilaria Salis hier in Ungarn besorgt sind: Sie wurde genauso behandelt wie andere Gefangene in Ungarn, und sie sollte aufhören, das Opfer zu spielen. Im Übrigen hat die Europäische Union im vergangenen Dezember nach einer zweijährigen Untersuchung unser Justizsystem als völlig unabhängig beurteilt.

Was halten Sie davon, dass Ilaria Salis bei den Wahlen zum Europäischen Parlament als Kandidatin der Ultralinken antritt?

In Ungarn würde ein Kandidat, der in ein anderes Land geht, um das zu tun, was Ilaria Salis aus politischen und ideologischen Gründen getan hat, nicht geschätzt werden. In Italien weiß ich es nicht…

Sie kennen Giorgia Meloni seit Jahren, was halten Sie von ihrer Regierung?

Giorgia Meloni und ich kennen uns seit vielen Jahren, und ich habe sie schon unterstützt, als sie noch Vorsitzende einer 4%-Partei war. Als ich sie zum ersten Mal traf, dachte ich: Sie wird es weit bringen, denn sie hat die beiden wichtigsten Eigenschaften für die Politik: Charakter und Persönlichkeit. Außerdem ist sie eine Christin, die ihr Land liebt, und das ist es, was wir brauchen. Natürlich hat sie jetzt, wo sie in der Regierung ist, mehr Verantwortung, aber in den anderthalb Jahren, die sie in der Regierung ist, hat sie sehr gute Arbeit geleistet, und sie ist in Europa geachtet, das sehe ich, da ich auch im Europäischen Rat bin. Jetzt hat sie eine wichtige Rolle in Europa, und vieles wird von ihren Entscheidungen abhängen.

Sie waren ein Freund von Silvio Berlusconi, welche Erinnerungen haben Sie an ihn?

Berlusconi war ein Freund, ich hatte immer Spaß mit ihm. Die europäische Politik ist langweilig, und Berlusconi hat die Muster der politischen Korrektheit durchbrochen, aber er war auch ein Kämpfer, der nie aufgegeben hat. Trotz allem, was ihm die Linke in Italien mit den Medien und der Justiz angetan hat, hat er nie seinen Optimismus verloren. Ich hatte großen Respekt vor ihm, denn er war einer der klügsten Politiker, die ich je kennen gelernt habe, ich vermisse ihn und bete für ihn.

Vor einigen Monaten haben Sie Donald Trump getroffen, zu dem Sie eine enge Beziehung haben. Glauben Sie, dass er die Präsidentschaftswahlen gewinnen kann? Wie würde ein Sieg von Trump die europäische Politik verändern?

Ich denke, Trump hat die Chance, der neue Präsident der Vereinigten Staaten zu werden. Wir brauchen einen nicht-globalistischen Präsidenten, der die Vision der Demokraten vom „Export der Demokratie“ überwindet; das ist das Dümmste, was ich je gehört habe. Trump war der einzige Präsident, der nicht in den Krieg gezogen ist und eine friedliche Lösung im Nahen Osten gesucht hat. Ich glaube, wenn er Präsident würde, könnte er einen Waffenstillstand in der Ukraine erreichen und innerhalb von vierundzwanzig Stunden Verhandlungen starten.

Italien erlebt einen schweren demografischen Winter, während in Ungarn dank der Familienpolitik der Regierung die Fruchtbarkeit zu steigen beginnt. Können Sie uns die wichtigsten Maßnahmen der Familienpolitik Ihrer Regierung erläutern?

Der Geburtenrückgang ist auf einen allmählichen Wertewandel zurückzuführen, der sich im Laufe der Jahre in Europa vollzogen hat, und es ist notwendig, den Frauen Garantien und Hilfe zu bieten. Wir brauchen ein System, das die Frauen durch Leistungen und Anreize schützt, aber auch durch ein familienfreundliches Steuersystem, wie wir es in Ungarn geschaffen haben, wo die Geburtenraten in den letzten Jahren gestiegen sind, wenn auch im Moment noch nicht in ausreichendem Maße.

Ungarn ist dank seiner Denkfabriken und Stiftungen zu einem Ort geworden, an den Konservative aus der ganzen Welt kommen. Welchem Umstand ist diese Betonung der Kultur zu verdanken?

In einem liberalen Ozean gibt es nur eine konservative Insel, und das ist Ungarn. Eine Insel der Freiheit, wo man Gender, Migrationspolitik und Krieg ohne Konsequenzen kritisieren kann. Heute ist die Freiheit in Europa durch die politische Korrektheit bedroht, und es besteht die Gefahr, dass die nächste Generation von Europäern nicht mehr frei sein wird. Wir müssen für sie kämpfen.

FOLLOW
SHARE

More news