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Rede Viktor Orbáns bei der Einweihung des renovierten Tisza-Schlosses

Sehr geehrter Herr Staatspräsident, sehr geehrte kirchliche und weltliche Würdenträger! Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger von Geszt und aus dem Komitat Békés, ja und auch jene, die von jenseits der Grenze zu uns gekommen sind!

Sehr geehrte Damen und Herren! 

Hier in Geszt, neben dem restaurierten Schloss der Familie Tisza, nur einen Steinwurf von der würdig restaurierten Familiengruft entfernt, am Tag der Nationalen Einheit, im drohenden Schatten eines weiteren Krieges, kann man mit Sicherheit sagen, dass hier in Geszt heute Geschichte sich konzentriert. Hier ist eine Nation, die vor hundert und ein einigen Jahren zwei Drittel ihres Landesgebietes durch einen verheerenden Krieg verloren hat, und ein Drittel ihres Volkes sich hinter fremden Grenzen wiederfand. Doch diese Nation hat dennoch nicht die Resignation und die Vergänglichkeit gewählt, sondern den Kampf und das Überleben. Heute ist diese Nation bereits zu mehr in der Lage, als nur jedes Jahr der ungerechten Schrecken zu gedenken, die ihr widerfahren sind, sondern auch jedes Jahr ihren unbändigen Lebenswillen und ihre Einheit zu bekräftigen. Und sie ist endlich in der Lage, der Familie, die ihr so viel gegeben hat, die dieser zustehende Dankbarkeit zu erweisen. 

Denn hier gibt es auch eine Familie, deren Geschichte mit dem Ideal eines freien, unabhängigen und souveränen Ungarns verwoben ist. Heute begleichen wir die Schuld der ungarischen Nation an ihr, indem wir für ihr Heim und die Ruhestätte der Familie in würdiger Weise sorgen, und sie der Obhut der Kirche anvertrauen, die vielleicht nie treuere Verehrer besaß als die Familie Tisza. In den Kämpfen gegen die Türken standen die Mitglieder der Familie Tisza auf der Seite der siebenbürgischen Fürsten. Nach Beendigung der Kämpfe mussten sie – trotz aller militärischer Verdienste – dann fast ein Jahrhundert lang kämpfen, um ihr angestammtes Land zurückzuerobern. Wir können nicht überrascht sein. Bereits die damaligen westlichen Reiche waren nicht bereit, den Ungarn ihren rechtmäßigen Anspruch anzuerkennen und diesen zu übergeben. So ließ sich die Familie in Geszt nieder und wurde erneut zum Schmied der Sache der ungarischen Nation. Ihre Gestalten tauchen in der Literatur auf, und zwei von ihnen nahmen später die Aufgabe der politischen Führung des Landes auf sich. Die letzte starke und erfolgreiche Periode des Königreichs Ungarn ist untrennbar mit der Familie Tisza verbunden. Kálmán Tisza ging als standhafter und erfolgreicher General des Dualismus in die Geschichte ein. Und an seinen Sohn István Tisza erinnerte sich der spätere Ministerpräsident István Bethlen auf folgende Weise: „Er starb als Märtyrer für die große Sache der Nation, und mit ihm starben Nation, Land, Thron, Monarchie und der Ruhm von 1000 Jahren.” Sein Tod bedeutete nicht nur den Verlust eines großen Mannes, nicht nur den Verlust eines großen Ministerpräsidenten, sondern auch das schmerzliche Ende einer historischen Ära. Denn hier ist das unausweichliche Datum, der 4. Juni, der Tag des versuchten Attentats auf die ungarische Nation. Mit István Tisza wurde nicht nur die historische Rolle einer Familie, sondern auch die 900-jährige Geschichte des ungarischen Königreichs beendet.

Sehr geehrte Gedenkende!

Vor 104 Jahren wurden wir einem grausamen, unbarmherzigen und ungerechten Diktat unterworfen. Millionen von Ungarn wurden zu Fremden in ihrer eigenen Heimat. Die ungarische Industrie und die besten Teile des Agrarlandes gingen verloren. Unsere großen Universitäten, unsere schönsten Städte, unsere kulturellen Schätze und die prägenden Schauplätze unseres nationalen Gedächtnisses waren nun im Ausland. Die Wunden, die eine Nation am meisten schmerzen, sind die, die für das menschliche Auge unsichtbar sind. Ungar ist der, dem am meisten die nationale Wunde von Trianon schmerzt. Aus der Perspektive all dieser Jahre ist es klar, dass das Diktat von Trianon darauf abzielte, unsere Nation zu töten. Aber die Großmächte, die an den Kolonialismus gewöhnt waren, kannten den Charakter der Ungarn nicht. Sie wollten uns begraben, aber sie wussten nicht, dass wir der Samen sind. Sie schaufelten unsere Gräber so, wie man das zu machen pflegt. Sie brachten die guten Herren der Heimat um oder trieben sie in die Flucht. Sie lieferten unser Land in seiner dunkelsten Stunde in die Hände von Männern, bei denen man auch 100 Jahre später noch nicht weiß, ob ihre Unfähigkeit oder ihre bösen Absichten die größere Geißel für das Land waren. Sigmund Freud schrieb damals: „Es ist für mich fraglich, ob es ein Zeichen politischer Klugheit ist, dass sie den klügsten der vielen Grafen, István Tisza, ermorden, und den dümmsten, Mihály Károlyi, zum Ministerpräsidenten machen.” Merken wir uns das als eine Lehre.

Sehr geehrte Gedenkende!

Der Verlust unseres Landes vor 104 Jahren brachte uns ein Krieg an den Hals. Ein Krieg, den der damalige Ministerpräsident István Tisza mit jeder Faser seines Wesens ablehnte. Er widersetzte sich ihm in geheimen kaiserlichen Beratungen und er widersetzte sich ihm auch im ungarischen Parlament. Aber das Land hatte nicht die Kraft, sich aus dem Krieg herauszuhalten. Wir waren an ein Kaiserreich gekettet, das die Frage von Krieg und Frieden für sich behielt. Wien und Budapest waren voll von Kriegstreibern, falschen Messiassen, ausländischen Agenten. Vergebens war das Verantwortungsgefühl für die Zukunft der Nation und das vernünftige Kalkül, Ungarn musste in einen ihm aufgezwungenen Krieg hineinmarschieren. Tisza wusste, dass es eine noch größere Tragödie gab, als wenn die Nation in einen Krieg gegen ihre eigenen Interessen hineingezwungen wird. Eine noch größere Tragödie ist es, wenn die Nation diesen Krieg verliert. Als es dann keine andere Wahl mehr gab, tat Tisza alles im Interesse des Sieges, was er konnte. Hätten wir genug Kraft gehabt, hätten wir den Frieden bewahrt, die Krone und die Nation hätten weniger gelitten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Der Krieg, den István Tisza ablehnte, war ein Krieg, bei dem nicht nur die Besiegten, sondern auch die Sieger draufgingen. Der Frieden in Europa endete am Tag des Trianon-Diktats, denn das Ergebnis war nicht Frieden in Europa, sondern eine neue Angst vor dem nächsten Krieg, der zwei Jahrzehnte später einen noch größeren Weltenbrand auslöste. Die Diktate, die den Krieg beendeten, brachten keinen Frieden, sondern neue Verwüstungen im Karpatenbecken. Neue Länder entstanden, und bald flammten ethnische Spannungen weitaus stärker auf als es sie in der ehemaligen Monarchie gegeben hatte. Die künstlich zusammengeschusterten Staatsgebilde lösten sich bei der ersten Gelegenheit auch wieder auf. Es wächst zusammen, was zusammengehört, doch es fällt auseinander, was nicht zusammengehört. Am Ende entstanden Länder, die kaum in der Lage waren, aus eigener Kraft zu überleben, und die mehr denn je voneinander abhängig waren. Doch die unsichtbaren Narben der Geschichte ließen sie einander mit feindseligen Blicken betrachten und schließlich zu Vasallen fremder Imperien werden. So wurde das Karpatenbecken erst zu einer deutschen, dann zu einer sowjetischen Einfluss- und Besatzungszone, und so kam es dazu, dass Mitteleuropa seine Stimme auch in der heutigen Europäischen Union nicht mit ausreichendem Gewicht Gehör verschaffen kann.

Aber so düster die Wolken über Mitteleuropa auch sein mögen, es gibt einen Hoffnungsschimmer, der am Rande hervorlugt. Wir sind inzwischen an dem Punkt angelangt, an dem die Völker des Karpatenbeckens trotz aller imperialen Intrigen, trotz aller geopolitischen Schikanen und trotz der Last aller ungebetenen Pakte endlich frei und souverän sein wollen. Vor 110 Jahren kämpften die Völker des Karpatenbeckens gegen die Ungarn um ihre Souveränität. Vor 110 Jahren haben sich noch alle auf den Krieg gefreut und ließen ihn hochleben. Die Tschechen, die Österreicher, die Slowaken, die Rumänen, die Serben und die Kroaten haben gejubelt. Heute, wo wieder Krieg droht, machen die Menschen hier den Großmächten klar: Wir haben unsere Lektion gelernt und wollen keinen Krieg. Der Wille der Völker des Karpatenbeckens ist klar. Sie wollen nicht wieder aufopferbare Bauern sein, Vasallen, die auf dem imperialen Schachbrett in den Krieg geschickt werden. Nicht für Brüssel, nicht für Washington, nicht für George Soros. Wir, Ungarn, die Mitglieder der größten Gemeinschaft des Karpatenbeckens, sprechen das am lautesten aus. Aber wir wissen, dass auch die anderen so denken. Es ist in der Zwischenzeit auch klar geworden, dass die hier lebenden Völker für ihre Souveränität nicht gegen die Ungarn kämpfen müssen, sondern gemeinsam mit den Ungarn kämpfen können. Heute können die Rechte der Völker Mitteleuropas nicht gegen die Ungarn, sondern gemeinsam mit den Ungarn verteidigt werden. Am Tag der Nationalen Einheit sollten nicht nur wir, Ungarn, zusammenstehen, sondern auch die Völker des Karpatenbeckens sollten sich gegenseitig in sich die Schicksalsgenossen erkennen. Denn uns verbindet nicht nur eine starre geopolitische Notwendigkeit, sondern auch eine gemeinsame Geschichte und eine seltsame, unerklärlich ähnliche Weltsicht, die hiesige mitteleuropäische Qualität des Daseins.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gedenkende!

Diese Tatsache stellt auch uns Ungarn vor eine ernste Aufgabe. Die nationale Zusammengehörigkeit ist nicht nur eine Tatsache, sondern auch ein Programm. Wir brauchen nicht nur ein Miteinander, das ein Zustand ist, sondern auch eine Verbindung miteinander, die ein Ziel ist. Unser Programm ist in Wirklichkeit ein Programm der nationalen Vereinigung. Es reicht nicht aus, sich an die verbindende gemeinsame Vergangenheit zu erinnern, wir müssen eine gemeinsame Zukunft wollen und planen. Aber zuallererst müssen wir von ihr träumen. Wir müssen von einer glorreichen Zukunft träumen. Die Zukunft einer großen Nation, deren nationale Teile sich nicht mit dem zur Niederlage verurteilten Schicksal einer zahlenmäßigen Minderheit abfinden, sondern den Weg der Größe, der geistigen Größe gehen. Nicht auf der Promenade des Hochmutes, nicht auf der Promenade des Prunks und der Großtuerei, sondern auf dem Kutschweg der Qualität und der Leistung. Wir, Ungarn, dürfen niemals zählen, sondern müssen immer abwägen. Intellektuelle Leistungen, Qualitätskultur, Nobelpreise, olympische Goldmedaillen und erstklassige Politik, denn im Gegensatz zu unserer manchmal zweifelhaften Erfahrung ist die Politik auch eine intellektuelle Kunst. Wer empfiehlt, dass wir es wagen sollten, klein zu sein, begeht ein Verbrechen am Ungarntun. Wir sind die Nation, die in jedem Land des Karpatenbeckens eine Heimat hat. Wir sind diejenigen, die aus dem Ganzen mehr machen als die Summe seiner Teile. Wir sind diejenigen, die immer wieder zur Zusammenarbeit und Solidarität aufrufen müssen und sich über die Erfolge unserer Nachbarn freuen, ja, freuen müssen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! 

Mitteleuropa steht heute vor der gleichen Bedrohung wie vor 110 Jahren. Ein erneutes imperiales Interesse will uns in den Krieg ziehen. Hier sind wieder die Kriegstreiber, die falschen Messiasse und die ausländischen Agenten imperialer Interessen, die verkünden, dass der Einsatz von Waffen unvermeidlich ist. Aber wir wissen, dass sie sich irren. Krieg ist niemals unvermeidlich. Krieg ist immer das Ergebnis menschlicher Entscheidungen, und im Schatten der Waffen gibt es kein Leben und keine Gerechtigkeit, sondern nur Tod und Ungerechtigkeit. Deshalb müssen wir heute uns vornehmen, das zu tun, was Ministerpräsident István Tisza nicht gelungen ist. Wir verhindern, Ungarns Teilnahme an einen weiteren europäischen Krieg. Unsere Chancen sind heute besser als in der Endphase des Dualismus. Wir sind jetzt souverän, und Souveränität ist sowohl die Angelegenheit als auch das Recht eines jeden Ungarn. Wir wählen die Regierung, wir haben die Macht, wir, Ungarn, bestimmen unser Schicksal selbst. Die Entscheidungen werden jetzt nicht an geheimen imperialen Verhandlungstischen getroffen, wo wir immer schwächer sind, sondern in nationalen und europaweiten Wahlen vor einer möglichst breiten Öffentlichkeit. Bis zu den Wahlen sind es noch fünf Tage, und jetzt können wir tun, wozu wir seit 110 Jahren keine Gelegenheit mehr hatten: Das gesamte Ungarntum kann in einem klaren, demokratischen Rahmen „Nein“ zum Krieg sagen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gedenkende!

Das Andenken an die Familie Tisza und ihr Ansehen, selbst im Tod, verdient, ja verlangt, dass wir geradeheraus sprechen. Wir, die heutige nationale Regierung und die große Mehrheit und Kraft hinter ihr, verputzen nicht, sondern restaurieren. Schauen Sie sich hier um! Wir betasten nicht die Wände, wir kratzen nicht an der Farbe herum, wir restaurieren, das heißt, wir stellen wieder her. Wir bauen wieder, wir bauen wieder auf. Wir wollen die aus den Fugen geratene Zeit in Ordnung bringen, den Riss im Gewebe der ungarischen Zeit flicken. Wir rächen uns am Kommunismus, indem wir über ihn hinweggehen, als ob er nie existiert hätte. Wir rächen uns für die gestohlenen 45 Jahre, indem wir das Ungarn vor der deutschen und sowjetischen Besatzung mit dem heutigen Ungarn verbinden. Genauso, wie es das Grundgesetz vorschreibt. Indem wir auf die Zeit der alten ungarischen Größe zurückgreifen, spannen wir einen Bogen zu dem und ins moderne Ungarn des 21. Jahrhunderts. Dies ist die ursprüngliche und tiefste Bedeutung des Systemwechsels, und die Zweidrittelmehrheit, die wir 2010 erhalten haben, wurde und wird jeden Tag durch uns genutzt, um dies zu erreichen. Die heutige Gedenkfeier ist eine wichtige und aussagekräftige Etappe in dieser großen Mission, die vielleicht über unsere Generation hinausweist. Diejenigen, die hierherkommen, können jetzt und im nächsten Jahrhundert sehen und verstehen, was die Tiszas wollten, und was unsere Generation wollte. Wer hier hereinkommt, wird genau verstehen, was die Losung unserer Generation bedeutet. Jedes Spiel dauert so lange, bis wir es gewonnen haben.

Der liebe Gott über uns allen. Ungarn vor allen Dingen. Vorwärts Ungarn.

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