Viktor Orbáns Presseerklärung nach seiner Unterredung mit Aleksandar Vučić, dem Präsidenten Serbiens
8. Juli 2021, Belgrad (Београд)

Sehr geehrter Herr Präsident!

Ich bedanke mich dafür, hier sein zu dürfen! Zuerst würde ich kurz über einige konkrete Dinge sprechen und danach einige Fragen in ihren europäischen Zusammenhang stellen.

Ich danke dem Herrn Präsidenten für die Möglichkeit der Unterredung! Wir haben wichtige Fragen besprochen. Wir haben ernsthafte Erfolge hinter uns. Die Ungarn versuchen sich zwar bescheiden zu verhalten, doch gibt es einen wichtigen politischen Spruch bei uns, laut dem der eigene politische Erfolg eine derart wichtige Sache ist, dass wir es nicht anderen überlassen dürfen, darüber zu sprechen. Und da es tatsächlich die Struktur der modernen Medien ist, dass die Skandale spannender sind als die Erfolge, sind wir tatsächlich auch gezwungen selber über die Erfolge zu sprechen, deshalb erlauben Sie es mir, mit der nötigen Bescheidenheit, aber selbst auch einige Tatsachen zu unterstreichen. Über die Zusammenarbeit im Bereich der Bahn hat der Herr Präsident ausgeführt, dass es selbst während der Pandemie 16 große Investitionen gab, von denen sich 13 auf die Gebiete unter der Wojwodina, südlich von ihr bezogen, und die Verbindung der Gasleitungen ist erfolgt. Ich erinnere mich noch gut daran, als ich vor vielen Jahren mit dem Herrn Präsidenten über die Gaslieferungen sprach, dass Ungarn tatsächlich versuchte, die Preise auf korrekte Weise zu gestalten, als Serbien sich in einer Zwangslage befand und das Gas nur aus Ungarn kommen konnte. Und wir sind in Mitteleuropa, und wir pflegen gegenüber einander misstrauisch zu sein, wenn jemand etwas Gutes tut, welcher Hintergedanke denn wohl dahinterstecken möge? Vergessen wir nicht, dass die Beziehungen der Länder der Region doch von diesem Punkt aus gestartet sind. Und der Herr Präsident hatte gefragt, gut, aber warum sei dies gut für uns? Und ich sagte ihm, da es sicher auch noch umgekehrt vorkommen wird. Und ich erinnere mich, wie er nur abgewunken hat: klar. Und jetzt stehen wir hier, einige Jahre später, und jetzt ist es umgekehrt. Dies macht also darauf aufmerksam, dass die mitteleuropäischen Länder es verstehen müssen, dass die kurzfristigen Interessen durch die langfristige Schicksalsgemeinschaft überschrieben wird: einmal mir, einmal dir. Wir müssen aus dem Grund miteinander korrekt sein, denn die Windrichtung der Geschichte kann sich jederzeit drehen, und man wird auf den Nachbarn angewiesen sein. Und wenn du mit deinem Nachbarn nicht fair und korrekt gewesen bist, wird er es auch nicht sein. Wenn das die Völker Mitteleuropas nicht verstehen, dann kann man die Region psychologisch und seelisch nicht stabilisieren. Denn die Stabilisierung der Region ist nicht einfach nur eine wirtschaftliche Frage, sondern die Frage des Zusammenlebens der Völker, was eine Vertrauensfrage ist, d.h. eine seelische Frage. Ich freue mich, dass diese Gasgeschichte das Wesen dessen zeigt, wie das Meer in einem Wassertropfen.

Ich würde etwas über die Geschichte sagen, wenn dies der Herr Präsident erlaubt. Ich bin seit dreißig Jahren im Metier, ich sehe Serbien also nicht jetzt das erste Mal. Ich habe es als Parlamentsabgeordneter 1990 das erste Mal gesehen, und ich weiß genau, wie diese dreißig Jahre verliefen. Und ich weiß auch, wie die letzten zehn Jahre verliefen, und wie die letzten sieben Jahre. Und ich erinnere mich auch an die Zahlen, und die Zahlen lügen nicht. Ein jeder schreibt natürlich so eine Autobiographie, wie er es möchte, doch die Zahlen lügen nicht. Und wenn Sie sich die Zahlen Serbiens in den vergangenen sieben-acht Jahren ansehen, dann kann ein jeder sehen, wie sich hier eine große Erfolgsgeschichte im Ausbilden begriffen ist. Die Staatsverschuldung ist runtergegangen, hinsichtlich der Einkommen lag das Land, ich erinnere mich, vor sieben-acht Jahren an der vierten Stelle in der Region, jetzt steht es an erster Stelle, man kann die Entwicklung der Stadt sehen, die Investitionen, also wenn sich jemand Serbien unbefangen annähert und nicht blind ist, dann sieht er genau, was geschieht. Und er verspürt darin auch den historischen Zug, den Schwung, dass hier die Dinge nicht zufällig geschehen, sondern es ist ein Zeitalter, das aufbaut, stärker wird und sich verbreitet. Über die Zukunft pflegen Politiker ja häufig zu denken, man müsse sie sich auf die Weise vorstellen, dass der Schiffskapitän auf dem Bug des Schiffes steht, und von dort nach vorne blickt, und die Zukunft zu erblicken versucht. Was eine falsche Vorstellung ist, denn die Zukunft ist nicht dort, da sie noch nicht fertig ist. Man muss sich die Zukunft eher so vorstellen, wie wenn man in einem Paddelboot sitzt, mit dem Rücken zur Zukunft, und was die Zukunft sein wird, kann man nur aufgrund dessen beurteilen, was man bereits gesehen hat. Deshalb ist die historische Erfahrung die wichtigste Sache in unserem Beruf. Und ich kann Ihnen sagen, dass wenn wir über die Mitgliedschaft Serbiens in der Europäischen Union sprechen, da spreche ich von dieser Position der historischen Erfahrung aus. Ich erinnere mich, da ich zwischen 1998 und 2002 die Gespräche über den Beitritt Ungarns geführt habe, und ich erinnere mich daran, dass jedes Land – wir waren auch mehrere – danach strebte, als erster beizutreten. Denn jeder dachte, es gäbe gleiche Chancen, jedes Land sei gleichberechtigt, ein jeder muss die Chance erhalten. Aber es gab einen Moment, in dem es sich herausstellte, dass wir natürlich alle gleich sind, aber Polen von zentraler Bedeutung ist. Solange Polen nicht in die Europäische Union aufgenommen wird, solange wird Mitteleuropa nicht in die EU aufgenommen, und solange Polen nicht Mitglied der EU ist, wird sich Mitteleuropa nicht stabilisieren. Jede Region besitzt ein Land von zentraler Bedeutung. Dies verletzt die Sensibilität der anderen nicht, aber für alle gibt es ein Land von zentraler Bedeutung, auch wir hatten so ein Land. Ich setze mich deshalb sehr eindeutig für Serbiens Mitgliedschaft in der Europäischen Union ein, da ich mich dadurch für die Integration des gesamten Westbalkan einsetze. Solange Serbien nicht integriert ist, wird der Westbalkan nicht integriert sein., Serbien ist das Land mit zentraler Bedeutung. Das muss die EU verstehen. Ja, ich muss sagen, dass heute – wenn ich die Sprache der Zahlen spreche – die Europäische Union stärker an Serbiens EU-Mitgliedschaft interessiert ist als Serbien an der EU-Mitgliedschaft. Das muss man in Budapest, Warschau, Berlin, Paris und auch Brüssel verstehen. Damit dies klar wird, muss man arbeiten. Es gibt noch viel zu tun, dieser Zusammenhang ist nicht für alle offensichtlich. Der Schlüssel zur Stabilisierung der Region ist Serbien.

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Die Grundlage der serbisch-ungarischen Kooperation ist, dass beide Länder an ihre eigene Zukunft glauben. Hieraus entspringen alle Ambitionen. Wir sehen eine Möglichkeit vor uns, da wir sehen, dass wir besser leben, als unsere Eltern gelebt haben, und wir haben den Eindruck, dass unsere Kinder besser leben werden als wir, wenn wir unsere Arbeit anständig verrichten. Das ist unsere Ambition: Unsere Kinder sollen besser leben als wir. Und wenn jemand Serbien oder Ungarn betrachtet, dann sieht er diese Möglichkeit. Vor sieben-acht Jahren war es, dass aus Serbien ein Land von zentraler Bedeutung werden und eine solche Bahn des Wachstums beschreiten könnte, ein Potential, eine Möglichkeit. Die Zahlen zeigen deutlich, dass sich Serbien auf der Bahn befindet, auf der es sich auch im Interesse der nächsten Generation lohnt, weiter voranzuschreiten. Und unsere Kinder werden ein längeres, schöneres und glücklicheres Leben haben, als es uns gegeben war. Das ist unsere Ambition. Wir denken in der Kategorie der Familie, der Nation, eine höhere Ambition können wir uns gar nicht vorstellen. Die beiden Länder stehen sich hierin sehr nahe hinsichtlich ihrer seelischen Konstitution.

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Hiernach möchte ich noch einige Worte darüber sprechen, dass die Pandemie eine gefährliche Erscheinung für eine gewisse Zeit in den Hintergrund gedrängt hat, aber da sie jetzt im Vorbeigehen zu begriffen scheint, klopft diese gefährliche Erscheinung an unsere Tür, und sie heißt massenhafte Migration. Die serbisch-ungarische Kooperation wird in den kommenden Jahren erneut ein altes, wohlbekanntes Problem haben, diese ist die von den von uns östlich liegenden Gebieten, von den südlich im Osten liegenden Gebieten kommende Migration. Wenn jemand die aus Afghanistan kommenden Nachrichten beobachtet, kann er sehen, dass schon jetzt täglich mehrere hundert oder tausend Personen das Land wegen der dramatischen Verschlechterung der Lage verlassen, ungehindert in die Türkei kommen, und von dort aus ist der Balkan nur noch ein Schritt, und von dort ist Ungarn nur noch ein Schritt. Obwohl auch ich den Standpunkt von Jadranka teile, ohne mich in die serbische Debatte einzumischen, auch meiner Ansicht nach ist Serbien der südliche Teil Mitteleuropas. Balkan bedeutet unserer Auffassung nach etwas anderes, aber ich möchte anmerken, da dies der gebräuchliche Begriff ist, werde auch ich diesen benutzen. Also ohne die Stabilisierung des Westbalkan, ohne seine Kraft und Fähigkeit zur Verteidigung gegenüber der Migration wird auch Ungarn nicht in Sicherheit sein.

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Abschließend möchte ich das Wiederholen, was ich zuvor schon gesagt habe, und was Sie hier in Serbien sicherlich wissen: dass Sie auf Ungarn zählen können. Auch Ungarn zählt auf Serbien. Einmal für mich, das andere Mal für dich. Jetzt steht gerade Serbiens Mitgliedschaft in der Europäischen Union auf der Tagesordnung, wir können jetzt dabei helfen, und wir werden dazu jedwede Hilfe geben und wir sind uns darin sicher, dass im Laufe der vor uns stehenden Jahrzehnte Ungarn, wenn wir Probleme haben sollten, auf ihren Präsidenten und auf Serbien, und auf die serbischen Menschen zählen kann.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!