Viktor Orbáns Panelgespräch mit den Leitern des Monatsblatts Cicero
11. Oktober 2022, Berlin

Herr Ministerpräsident, am frühen Morgen des 24. Februar fielen russische Truppen in die Ukraine ein, ein Nachbarland im Übrigen Ungarns, das ist hier vielen immer noch nicht bewusst. Wie haben Sie von diesem Ereignis erfahren und was waren in dem Moment Ihre ersten Gedanken?

Am 5. Februar war ich in Moskau, drei Wochen vor dem Krieg, und ich verhandelte fünf Stunden lang mit Wladimir Putin, als eine Art Friedensmission. Ich habe bereits früher gesehen, dass das zu Problemen führen würde. Und die Tatsache, dass es niemanden auf der westlichen Seite gibt, der spüren würde, dass man jetzt verhandeln müsse, ganz gleich, ob es eine Chance für eine Übereinkunft gibt oder nicht, doch die Tatsache von Verhandlungen ist ein „cool down“, d.h. eine abkühlende Sache, und da es so etwas nicht gegeben hat, hatten wir Angst davor, dass es Krieg geben würde. Und als ich am 5. da war, da habe ich auch den Präsidenten der Russen gefragt, was er über die ukrainische Armee denkt, und er sagte, die ukrainische Armee sei eine sehr starke Armee, eine sehr gut ausgerüstete Armee, mit einem durch Amerikaner und Briten ausgebildeten Generalstab, sie erhalten Informationen von den Amerikanern, und deshalb sei das ein sehr-sehr starkes Land. Und er hat deutlich gemacht, dass er alles tun werde, damit dieses Land niemals der NATO beitritt. Das sei in Imperativ für ihn. Und ich habe gesehen, dass er entschlossen war. Er sagte nicht, dass es Krieg geben würde, er sagte nicht, er werde angreifen, aber ich habe gesehen, dass es Probleme gibt. So dass ich dann auch in die NATO-Zentrale nach Brüssel gefahren bin und dem Generalsekretär der NATO gemeldet habe, dass es ein Problem gibt, denn die Zeit steht nicht auf unserer Seite, sondern auf der der Russen, und es könne alles geschehen. Und als dies am 24. geschah, habe ich nur soviel gesagt: „Nun, es ist das geschehen, womit wir gerechnet haben.“ Und ich begann gleich darüber nachzudenken, wie viele Ungarn sterben würden. Denn der Unterschied zwischen der deutschen und der ungarischen Position ist nicht nur ein geografischer – Sie sind weiter entfernt und Ungarn ist mit der Ukraine benachbart –, sondern wir haben 200 tausend Ungarn, die in der Ukraine leben, und von denen ein Teil eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzt, und ich habe darüber nachgedacht, wie viele sterben werden, wenn die Russen in die Karpatenvorlandregion hineinschießen oder sie in die Armee einziehen. Und bisher haben wir etwa 200 Menschen verloren, es sind 200 Ungarn gestorben. Also wenn wir über den Krieg sprechen, haben wir, Ungarn, schon 200 Menschen, die wir verloren haben, die als einberufene Soldaten an der Front gestorben sind, ein Großteil von ihnen mit doppelter Staatsbürgerschaft. Wir sind also dort in dem unmittelbaren Wirkungsbereich dieses Krieges. Und wir empfinden ein sehr starkes Gefühl der Bedrohung. Nun, so war es am Morgen des 24. Februar.

Sie führten aus, dass sich der russische Präsident Anfang Februar, also im Lauf Ihres Besuchs in Moskau sich entschlossen zeigte. Seitens der westlichen Geheimdienste gab es viele Informationen, wann der genaue Zeitpunkt des Angriffs sein würde, und ein-zwei solche angekündigten Zeitpunkte sind auch verstrichen. Was war Ihrer Meinung nach das eigentliche  Ziel der Invasion und der sie auslösende wahre Grund, denn die Informationen waren damals noch indifferent, und wenn Sie sagen, er war entschlossen, so war das nur der Punkt, dass er verhindern wollte, dass die Ukrainer NATO-Mitglied sein sollen?

Das ist eine sehr interessante Frage und man wird sicher Bücher darüber schreiben, aber ich gestehe, ich beantworte dies nicht gern. Der Grund dafür ist, dass ich sehe, der gesamte Diskurs über diesen Krieg konzentriert sich zu sehr auf Putin. Jeder spricht über Putin. Was dachte er, was denkt er jetzt, was wird er morgen Früh denken? Doch ich sage es ganz ehrlich, mich interessiert Wladimir Putin überhaupt nicht. Mich interessieren Ungarn und Europa. Wir müssen mehr Energie darauf verwenden, um über uns nachzudenken, darüber, welche Folgen dieser Krieg für uns besitzt. Wir sollten nicht davon ausgehen, was wir glauben, was wohl in seinem Kopf sei, man müsste davon ausgehen, was das europäische Interesse ist, was das deutsche Interesse ist, was das ungarische Interesse ist. Ich will also nicht an einem Diskurs teilnehmen, in dem es um Putin als einen exotischen Führer geht, anstatt mich um meine eigenen Dinge zu kümmern. Ich weiß also nicht, warum er den Krieg begonnen hat, das werden die Historiker herausfinden. Jetzt haben wir Krieg. Wir stecken drin im Übel. Man müsste sagen, was unser Interesse ist. Wenn wir nicht wissen, was das deutsche Interesse, das ungarische Interesse, das europäische Interesse ist, wie werden wir dann diesem Ganzen ein Ende bereiten? Ich möchte mich also auf diese Angelegenheit konzentrieren und nicht auf Wladimir Putin.

Ich glaube, die meisten Europäer sind sich darin einig, dass ein gemeinsames Ziel darin besteht, der Ukraine in dieser Situation beizustehen. Jetzt ist nach der Invasion am 24. Februar der Eindruck entstanden, Ungarn würde nicht wirklich an der Seite der Ukraine stehen, sondern mindestens im selben Maße auch an der Seite Russlands. Der ungarische Verteidigungsminister war nach dem 24. Februar mehrere Wochen lang nicht bereit, die russische Aggression als eine Invasion zu bezeichnen. Er sprach noch am 7. März, Zitat, von einem „Angriff mit beschränkten Zielen”. Warum waren Sie so zögerlich, Putins Krieg als das zu bezeichnen, was er nun einmal war und weiterhin ist

Ich habe das am ersten Tag als eine Aggression bezeichnet und wir haben die europäische Interpretation akzeptiert. Wir denken das über den Krieg, was die Europäische Union sagt, und deren Teil wir sind. Es gibt also keinen gesonderten ungarischen Standpunkt und einen gesonderten europäischen Standpunkt, wir teilen den Standpunkt der Europäischen Union. Das ist eine Aggression. Hinzu kommt noch, dass ich Jurist bin, es einmal war, noch genauer: Ich habe die juristische Fakultät besucht. Die Situation ist juristisch vollkommen offensichtlich. Es gibt das internationale Recht, das haben die Russen verletzt, das nennt man Aggression. Sie haben den Krieg ausgelöst. Ganz gleichgültig, was die Ursache war, das ist eine internationale Rechtsverletzung, darüber gibt es nichts zu diskutieren. Das ist eine Aggression. Und der ungarische Standpunkt ist in dieser Hinsicht vollkommen offensichtlich. Die Frage ist, was für einen Ausgangspunkt wir wählen, wenn wir über diese Situation nachdenken. So wie Sie es getan haben, pflegt man mich zu fragen, auf wessen Seite wir seien. Wir sind auf der Seite der Ungarn. Und ich halte es für ein sehr großes Übel, dass es nicht gelungen ist, diesen Konflikt zu isolieren. Sie wissen sicherlich, dass ich mit Angela Merkel einige brutale Auseinandersetzungen und Diskussionen in bestimmten Fragen hatte, besonders über die Migration. Doch was Angela Merkel in der Zeit der Krimkrise getan hat, das war eine Meisterleistung. Also dafür „Danke, Angela!” Denn dieser Krieg hätte auch zur Zeit der Krimkrise ausbrechen können, denn auch damals geschah eine offensichtliche Verletzung des internationalen Rechts, doch daraus wurde kein Krieg. Warum wurde daraus kein Krieg? Weil die Deutschen, mit der Kanzlerin an der Spitze sofort Verhandlungen initiiert haben, nach Kiew gegangen sind, nach Moskau gegangen sind, sie nach Brüssel eingeladen haben und den Konflikt isoliert haben. Der Krimkonflikt blieb also ein ukrainisch-russischer Konflikt, und sie haben nicht zugelassen, dass er explodiert und wir alle miteinbezogen werden. Das war eine große diplomatische Leistung. Und jetzt, wo dieser Krieg ausbrach, gab es niemanden, der seitens Europas auch nur den Versuch unternommen hätte, ihn zu isolieren. Das Ganze ist sofort explodiert und wir alle sind miteinbezogen worden. Und jetzt reden wir alle darüber, ob dann nun die Ukrainer oder die Russen, anstatt darüber zu reden, was unsere Interessen sind. Ungarn möchte also nicht in die Situation geraten, seine Schritte nicht aus den eigenen Interessen abzuleiten. Ich bin also nicht bereit, den Ukrainern auf die Weise zu helfen, dass ich dabei Ungarn kaputtmache. Ich bin nicht bereit, den Ukrainern so zu helfen, dass dabei Ungarn sterben. Das ist eine Beschränkung, die akzeptiert werden muss. Die gute Absicht ist wichtig, doch in der Politik besteht nicht die Verantwortung für die gute Absicht, obwohl dies Sie möglicherweise überrascht. Die Frage ist nicht, wer ein guter Mensch ist. Natürlich ist es gut, wenn es viele gute Menschen gibt, aber die Frage ist, wer löst das Problem? In der Politik gibt es die Verantwortung für das Ergebnis, nicht die für den guten Willen. Wir sind dafür verantwortlich, ob wir es gelöst haben oder nicht, nicht dafür, ob wir gut gedacht hatten oder ob wir schlecht gedacht hatten. Und ich will dieses Problem lösen, und deshalb gehöre ich zu dem Friedenslager. Heute gibt es also zwei Lager in Europa: das Kriegslager und das Friedenslager. Und ich bin für den sofortigen Waffenstillstand, ich bin für sofortige Verhandlungen. Ganz gleichgültig, was die Ukrainer darüber denken. Für mich als Ungarn ist es mein Interesse, dass es möglichst rasch einen Waffenstillstand gibt und dass es möglichst rasch Friedensverhandlungen gibt. Das unterscheidet mich von Ihnen, die Sie aus den ukrainischen Gesichtspunkten ableiten, was getan werden muss. Ich vertrete also eine andere Position.

Darf ich an dieser Stelle noch einmal kurz nachfragen: Habe ich Sie richtig verstanden, dass es mit einer Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht zu einem Ukrainekrieg gekommen wäre?

 Mit Sicherheit.

Sie haben gerade gesagt, Sie beziehen eine ungarische Position, wo Sie die Interessen Ungarns vertreten. Alles andere lassen Sie links und rechts liegen. Jetzt ist Ungarn aber Teil der Europäischen Union, und die EU ist eine Wertegemeinschaft und sie bündelt auch ihre Kräfte, nicht nur bei den Werten, sondern auch in der Ökonomie, wir haben die Kapitalfreiheit, wir haben die Bewegungsfreiheit. Jetzt haben Sie zu einer frühen Phase des Krieges für Ungarn Konditionen z.B. bei den Energielieferungen, den Öllieferungen verhandelt, und entgegen der politischen Empfehlung aus Brüssel, dass die EU geschlossen auftritt, für sich diese Verträge optimiert abgeschlossen. Machen Sie damit aus einer nationalen Perspektive Politik zu Lasten einer europäischen Perspektive und schwächen damit die europäische Position gegenüber Russland?

Hier muss ich zunächst einmal eine philosophische Bemerkung machen. Was bezeichnen wir als „europäische Politik“? Es gibt zwei Konzeptionen. Die eine sagt, europäische Politik ist das, was die europäischen Institutionen in Brüssel formulieren. Der andere Standpunkt sagt, die europäische Politik ist in Berlin, in Budapest, in Warschau, in Lissabon. Die europäische Politik ist nichts anderes, als die Gesamtheit des Willens der Mitgliedsstaaten, die wir harmonisieren müssen, und dann wird daraus ein europäischer Standpunkt. Aber es gibt über uns keinen europäischen Standpunkt, aus dem wir ableiten, was der nationale Standpunkt zu sein hat. Genau umgekehrt! Ein jedes Land besitzt seine eigenen Interessen. Und wenn wir übereinstimmen, na, dann gibt es einen europäischen Standpunkt! Das ist meine philosophische oder soziologische Bemerkung. Was das Konkrete angeht, ich habe jetzt schwierige Verhandlungen mit der Europäischen Kommission in finanziellen Fragen. Ich müsste jetzt also sehr höflich formulieren, doch dann soll man keine solche Einladung annehmen. Aber jetzt bin ich schon hier, ich muss also ganz ehrlich sagen, dass das, was die Kommission in der Angelegenheit der Sanktionen macht, das ist katastrophal. Nicht die Sanktionen an sich, denn die Sanktionen können gut und schlecht sein, sondern die – wie das der Engländer sagt – „craftsmanship“, das „engineering“, also das, wie es ausgeführt wird. Das ist also ein auf äußerst primitive Weise ausgeführtes System, das die europäischen Interessen in vollem Umfang außer Acht lässt. Und diese Sanktionen töten uns so, in dieser Form. Sie werden die deutsche Wirtschaft ruinieren, sie ruinieren die ungarische Wirtschaft, das ist nicht gut. Also Sanktionen muss man anders verhängen. Als ich in Brüssel sagte: „Freunde, Ungarn ist ein landlocked country, man kann über das Meer kein Öl dorthin transportieren, nur über Pipelines. Das eine Ende der Rohrleitung ist in Russland, das andere Ende ist in Ungarn, und es gibt keine andere Rohrleitung. Wenn Ihr also das Ölembargo aussprecht, dann bleibt am folgenden Tag die ungarische Wirtschaft stehen und ich habe keine Alternative. Das haben nicht wir gemacht, wir haben diese Ost-West-Infrastruktur aus den kommunistischen Zeiten geerbt. Was soll ich damit machen?“ Darauf sagten sie: „Findet eine Lösung.“ Das ist unmöglich! Das ist also eine primitive Sache, die wir machen. Und wenn wir es gut gemacht hätten, wären die Energiepreise heute nicht im Himmel. Natürlich wären sie höher, als sie vor dem Krieg gewesen waren, doch wären sie nicht im Himmel. Man kann Sanktionen auf die Weise verhängen, dass wir uns dabei nicht selbst ruinieren. Doch die Kommission war dazu nicht in der Lage. Also bin ich gezwungen, immer zu sagen: „Wenn Sanktionen, dann habe ich ein Problem. Helft Ihr es zu lösen oder nicht? Wenn Ihr nicht helft, lege ich ein Veto ein. Wenn Ihr helft, dann akzeptiere ich die Lösung, und macht, was Ihr wollt. Es geht aber nicht, dass Ihr die Ungarn bei Seite in die Ecke tretet, dass ihre Probleme nicht interessant sind.“ Also das ist unsere Diskussion in Wahrheit.

Das Hauptargument für die Sanktionen lautet ja, wir werden Russland nicht darin unterstützen, oder wir werden Russland nicht dabei helfen, den Krieg gegen die Ukraine zu finanzieren. Das ist ja ein Argument, das klingt erstmal recht plausibel. Sie sagen, man muss die Sanktionen intelligenter gestalten. Was verstehen Sie denn unter einem intelligenten Saktionsregime, das Russland schadet und der Europäischen Union nicht so sehr schadet oder womöglich nützt, und vor allem der Ukraine nützt?

Was wollten wir? Wir wollten, dass wir die Russen nicht finanzieren. Was machen wir? Nun, wir finanzieren sie! Die Preise sind in den Himmel gestiegen, die Russen verdienen daran. Im ersten Halbjahr der Sanktionen haben die Russen ihr Geld für das gesamte Jahr verdient. Die Sanktionen waren also primitiv, denn sie ersticken Russland nicht, sondern geben ihm zusätzliches Geld. Sie haben 158 Milliarden Euro während eines halben Jahres gemacht, und wir haben mehr als die Hälfte dessen bezahlt. Was für eine Sanktion ist das? Das, worüber ich spreche, ist, dass als die Ölsanktionen aufgeworfen wurden, da sagte man, was Sie auch sagen, dass nachdem wir kein Öl kaufen, werden die Russen weniger Geld haben. Ich sagte, ich vertrete ein kleines Land, doch wie viel Geld wer besitzt, das hängt nicht nur von der gekauften Menge ab, sondern vom Preis. Wenn die Preise in die Höhe gehen, dann verkaufen die Russen zwar weniger Öl, aber sie werden mehr Geld verdienen. Was war die Antwort darauf? Nein, nein, das wird nicht so sein. Ist es so geworden? So ist es geworden! Man kann also Sanktionen nur auf intelligente Weise einführen. Und mit den Sanktionen muss man im Übrigen vorsichtig umgehen, denn Sanktionen lohnt es sich dort zu verhängen, wo Du der stärkere bist. Also Sanktionen verhängt immer der Stärkere über den Schwächeren. Jetzt sind wir in Energieangelegenheiten Zwerge, und die Russen sind Riesen. Jetzt sanktioniert der Zwerg den Riesen, und wir wundern uns, dass der Zwerg daran stirbt. Man muss dies hier intelligenter machen. Craftsmanship: Man muss es geschickter zusammensetzen. So ist das nicht gut.

Jetzt entsteht bei mir der Eindruck, Sie gehen davon aus, dass Russland Öl und Gas liefern würde, wenn wir keine Sanktionen hätten. Aber was macht Sie denn so sicher, dass das überhaupt der Fall wäre? Russland hat ja ganz offensichtlich ein Interesse daran, Europa, den Westen, in unserem Fall die Bundesrepublik Deutschland zu destabilisieren durch Energieknappheit. Warum glauben Sie denn, dass die Russen wieder liefern würden, wenn wir einige Sanktionen zurücknehmen?

Ich sage ja nicht einmal, dass wir sie zurücknehmen sollten, ich empfehle nur, dass wir sie neu überdenken, und die Sanktionen neu schnitzen. Ich sage also nicht, dass wir sie nicht machen sollten, und dass wir uns zurückziehen sollten und wir sie aufgeben sollten, sondern nur irgendwie reasonable, common sense, wir sollten also etwas Sinnvolles in sie hineinstecken. Nun, ob die Russen nun liefern oder nicht? Die Russen reagieren in diesem Moment auf das Embargo, indem sie nicht liefern, so wie Sie das sagen. Und ob es jemals wieder losgeht, das wissen wir nicht, besonders dann, wenn bestimmte Gruppen mit terroristischen Aktionen die Leitungen sprengen. Wenn die Leitungen hochgejagt werden, dann können die Russen, selbst wenn sie wollten, nicht liefern. Jetzt geschieht dies. Jene Infrastruktur wird vernichtet, über die die Russen Gas und Öl nach Europa bringen können. Das war der Fall bei Nord Stream. Und wir sind besorgt, dass dies auch mit der südlichen Leitung geschehen kann. Die einzig erhalten gebliebene Leitung, die einen großen Umfang besitzt, kommt aus dem Süden – über die Türkei, Mazedonien, Serbien, Ungarn –, über die russisches Gas kommt. Wenn auch die gesprengt wird, dann wird Ungarn ohne Versorgung bleiben. Wir sind also deshalb besorgt. Und wir möchten eine Lösung, damit die russische Energie kommt. Und auch längerfristig. Was ist das europäische Interesse? Das europäische Interesse ist nicht, dass wir die russische Energieabhängigkeit gegen eine amerikanische Energieabhängigkeit tauschen. Wir wollen nicht das Herrchen wechseln, wir wollen Unabhängigkeit. Wir wollen also, dass es Alternativen für uns gibt. Wenn wir wollen, dann von hier, wenn wir wollen, dann von dort. Wenn wir wollen, dann aus Algerien, wenn wir wollen, aus Katar, wenn wir wollen, aus Amerika, wenn wir wollen, aus Russland, das ist unsere Sache. Wir brauchen also Unabhängigkeit, und nicht Ausgeliefertsein. Das, was wir jetzt machen, ist es, die russische Abhängigkeit gegen die amerikanische Abhängigkeit einzutauschen. Das ist natürlich bequemer, denn die Amerikaner sind Demokraten, gegenüber den Russen, und das ist politisch bequemer, aber es ist nicht gut. Wir brauchen eine gute Struktur. Die Frage ist also nicht, ob die Russen liefern oder nicht, sondern von wie vielen anderen Orten wir noch liefern lassen können, und dann müssen wir unter ihnen einen Wettbewerb herstellen. Wir sind Käufer. Für uns ist es gut, wenn vier-fünf Angebote auf dem Tisch liegen, und dann kaufen wir von dem, von dem wir das wollen – aus wirtschaftlicher oder politischer Erwägung. Das Problem ist nicht, dass es russisches Gas und Öl gibt, sondern das Problem ist, dass es kein anderes gibt. Und deshalb sind wir ausgeliefert. Das ist unsere Logik. Langfristig ist es das Interesse Europas, über viele Möglichkeiten zu verfügen, und nicht, das eine Herrchen gegen das andere einzutauschen.

Sie führten vorhin aus, dass der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine ein lokaler Konflikt war, solange er sich auf die Krim bezog, und dass es mittlerweile ein eskalierender internationaler Konflikt ist. Zurückkommend jetzt auf die Embargo- bzw. Sanktionspolitik müssen wir feststellen, dass wir eine europäische Perspektive haben, wir haben eine russische Perspektive und wir haben eine ganz große indifferente Perspektive, da gehören Länder wie Indien, China dazu, früher nannten wir sie die „blockfreien“, und sollten wir nicht aus einer europäischen Perspektive die Kräfte, den Bedarf und auch die Verhandlungsmacht bündeln, damit wir genau diesen offenen Wettbewerb herstellen können, um unsere Bedürfnisse befriedigen zu können und gleichzeitig faire Preise zu haben? Und inwieweit hilft es an dieser Stelle, dass Ungarn sich konträr zu der momentan vorgegebenen europäischen Verhandlungsposition stellt? Spielen Sie damit nicht taktisch einer russischen Perspektive in die Hände?

 Das ist die Anschuldigung. Ich werde also dessen beschuldigt, ich sei das Trojanische Pferd Putins. Ich sage immer, dass wir die Interessen der Ungarn vertreten und Schluss. Ich glaube, es werden über diese Fragen in den kommenden Monaten sehr viele Bücher geschrieben werden und Sie werden viele Vorträge sich anhören. China. Wir haben die Russen jetzt unter die Achselhöhle der Chinesen gedrückt, sie transportieren die Energie dorthin. Indien war nicht bereit, sich neben dem Westen aufzureihen. Die OPEC-Länder haben uns praktisch erniedrigt. Die Amerikaner sind hingegangen, damit sie mehr fördern, damit die Energie billiger wird, und die Saudis haben gesagt: „viel Erfolg“, und dann haben sie angekündigt, dass sie die Förderung senken werden. Also diese ganze, vom Westen übernommene Konfliktlage hat zur Folge, dass unsere Schwäche offensichtlich geworden ist. Früher hat also die westliche Welt, besonders wenn die Amerikaner mit ihrer gewaltigen Armee gesagt haben, dieses sei das Richtige, dann hat sich ein Großteil der Welt hinter sie gestellt. Ich habe noch nie sowas gesehen, dabei bin ich seit 32 Jahren in der internationalen Politik, dass die Amerikaner auf diese Weise weggescheucht worden wären, und China sagt: „Nein, wir sind mit Euch nicht einverstanden.“ Indien: „Wir sind nicht einverstanden.“ Die Araber: „Auch wir sind nicht einverstanden.“ Iran: „Wir nun sind erst recht nicht einverstanden.“ Afrika: „Uns interessieren die Westler nicht mehr.“ So schwach waren wir global noch nie und das ist jetzt offensichtlich geworden. Das ist meiner Ansicht nach nicht gut. Doch ist es sehr wichtig, dass die Politiker die Rechthaberei und die Spekulationen, die Vorträge nicht anstelle von Handlungen benutzen. Denn wenn wir den Konflikt so abschließen möchten, dass wir uns eine langfristige Lösung ausdenken und wenn wir diese gefunden haben, erst danach zu verhandeln beginnen, dann wird dieser Krieg Jahre dauern. Diese Denkweise muss umgedreht werden. Man muss sagen, gleichgültig, ob es eine langfristige Lösung geben wird, jetzt soll es sofort einen Waffenstillstand geben. Es soll sofort einen Waffenstillstand geben, denn sonst werden Zehntausende sterben und der Krieg wird sich Europa annähern. egal, ob es eine langfristige Lösung gibt, ein sofortiger Waffenstillstand ist notwendig. Das sagt der Papst, das sagt Kissinger, Habermas, einige amerikanische Republikaner, ich selbst, also sofortiger Waffenstillstand und beginnen wir dann zu verhandeln. Doch sollten wir uns nicht so hinsetzen, dass wir die Lösung wissen, weil wir die Lösung nicht wissen. Doch eine Sache wissen wir: Jeder einzelne Tag im Krieg ist schlechter als die Feuerpause. Deshalb sollten wir Politiker unsere Kräfte auf die Feuerpause konzentrieren, nicht auf langfristige Rechthabereien. Meiner Ansicht nach wäre dies das richtige Verhalten eines Politikers.

Sie sagen immer, wir sollten eine Feuerpause erwirken und wir sollten in Verhandlungen treten mit Russland. Putin, soll man ja nicht sagen, und es ist ja auch nicht nur Putin. Was macht Sie so sicher, dass die russische Seite überhaupt bereit ist, sich auf eine Feuerpause einzulassen, auf Verhandlungen einzulassen? Was soll überhaupt verhandelt werden?

Es wäre besser, wenn die Öffentlichkeit nicht hören würde, was ich jetzt sage, doch jetzt kann man daran nichts mehr ändern. Also die Feuerpause muss nicht zwischen der Ukraine und Russland zustande kommen, sondern zwischen Amerika und Russland. Die Feuerpause und die Verhandlungen hängen nicht von einer ukrainisch-russischen Verhandlung ab. Wer glaubt, dieser Krieg werde durch eine russisch-ukrainische Verhandlung abgeschlossen, der lebt nicht auf dieser Welt, Die Machtrealitäten sind andere. Man muss mit den Amerikanern verhandeln. Wir brauchen also russisch-amerikanische Verhandlungen. Und wenn es russisch-amerikanische Verhandlungen gibt, dann gibt es auch eine Feuerpause. Das Wesen dieses Krieges stellen ja doch die Kraftressourcen dar. Wie sieht es da aus? Die Russen verfügen über beinahe unbegrenzte Ressourcen hinsichtlich der Rohstoffe, der militärischen Kapazitäten und der menschlichen Ressourcen. Die Ukrainer verfügen über all das in limitierter Menge. Es ist offensichtlich, dass der Krieg nur dann hinsichtlich seines Ausgangs offenbleiben kann, wenn die Ukrainer Ressourcen von außen erhalten. Und heute verfügen wirtschaftlich und finanziell auch die Ukrainer über unbegrenzte Ressourcen, denn wir geben ihnen welche. Amerika gibt die Waffen, die Ausbildung, die Informationen aus dem All, wohin man schießen muss, das alles geben die Amerikaner. Die politische Sympathie der ganzen Welt halten die amerikanischen Medien in Richtung der Ukraine aufrecht, das ist die Lokomotive dessen. Der Ausgang des ukrainisch-russischen Krieges ist heute deshalb offen, weil die Amerikaner wollen, dass er offen sein soll. Deshalb sind auch sie es, die ihn abschließen können. Deshalb müssen die Amerikaner mit den Russen übereinkommen, und dann ist der Krieg vorbei. Jeder Tropfen Blut meines Herzens ist mit den Ukrainern. Das ist ein heldenhaftes Volk. Wir hatten viele Konflikte mit ihnen, und wir haben auch welche mit ihnen, doch das ist jetzt nicht von Interesse. Ein heldenhaftes Volk, sie kämpfen äußerst heroisch. Doch können sie nur deshalb im offenen Krieg stehen, weil wir ihnen unbegrenzt das Geld, Waffen, die Informationen, alles zuschieben. Deshalb können sie diesen Krieg nicht abschließen. Diesen kann Amerika abschließen. Und das ist das Wesentliche der Falle. Der amerikanische Präsident ist zu weit gegangen. Der amerikanische Präsident hat Dinge gesagt, aus denen man nur schwer zurückrudern kann. Wenn Putin ein Massenmörder, ein Kriegsverbrecher ist, wenn er stürzen muss, Putin must fail, regime change, wenn man solche Dinge sagt, dann kann danach dieser Präsident nur schwer Frieden schließen. Also wird es sich jetzt brutal anhören, was ich sage, aber der Name der Hoffnung auf Frieden lautet Donald Trump.

Also, als jemand der sich in der DDR sozialisiert hat, habe ich meine Erfahrung mit alten Politikern, die sich von ihren Ämtern nicht lösen können. Insofern hätten wir ein schönes neues Thema für die nächste Runde. Vielleicht kommen wir zur nächsten Frage. Die Visegrád-Gruppe war ja zusammengesetzt aus Tschechien, der Slowakei, Polen und Ungarn, und bildete ja ein kommunikatives Gegengewicht zu dem westlichen Teil der EU, und war auch im Wertesinne eine Opposition innerhalb der EU, und hat dort auch Wirkung entfaltet. Hat diese Visegrád-Gruppe aufgrund der unabhängigen Position Ungarns aktuell – und Polen positioniert sich ja diametral zu den ungarischen Positionen – noch eine Zukunft?

Das ist die Eine Million Dollar-Frage. Es war ja klar, dass die polnische Denkweise und historische Erfahrung und die ungarische sich voneinander unterscheiden. Wir stehen also mit den Polen zwar in einem brüderschaftlichen Verhältnis und wir opfern uns ohne nachzudenken, wenn wir gemeinsam mit den Polen für die polnische Freiheit kämpfen würden, das ist ein zauberhaftes, romantisches Element der ungarischen Geschichte, doch unsere Denkweisen waren immer unterschiedlich, denn unsere historischen Erfahrungen sind unterschiedlich. Die Polen haben also immer anders sowohl über die Russen als auch die Deutschen gedacht. Und das ist auch jetzt so. Wir diskutieren das zwar nicht jeden Tag aus, doch was die Polen zeitweilig über die Deutschen sagen, ist zumindest spannend. Und wir sagen solche Dinge nicht, das hat sicherlich seine Gründe. Es war also immer schon klar, dass innerhalb der V4, wenn die Geopolitik in den Vordergrund tritt, dann ist die Kooperation schwierig. Wenn die Geopolitik nicht auf der Tagesordnung steht, sondern nationale Interessen auf der Tagesordnung sind, wenn man für Werte in Brüssel kämpfen muss, sich für unsere gemeinsamen Werte einsetzen, sagen wir gegenüber den Deutschen oder den großen Staaten, damit wir ausreichend Gewicht für die Verhandlungen haben, die vier Länder umfassen doch mehr als 60 Millionen Menschen, dann ist die V4 leicht, dann läuft es gut. Jetzt sind wir in eine Phase eingetreten, in der die Geopolitik am wichtigsten geworden ist und die V4 quält, an ihnen zerrt. Doch gibt es hier noch zwei Dinge, über die ich nicht weiß, ob Sie, Deutschen, darüber zu sprechen pflegen. Wenn Sie sich die Wertelandkarte Europas ansehen, dann werden Sie sehen, dass es in der Angelegenheit der Migration, Fragen der Familie, des Gender, in der Frage des Konzepts der Familie, des Nationalgefühls eine Trennlinie in Europa gibt, die oben beginnt und entlang der westlichen Seite der baltischen Staaten verläuft, bei Tschechien nach Ungarn herunterkommt und bei Slowenien zu Ende geht. Jene, die sich östlich von dieser Linie befinden, die denken in der Kategorie der traditionellen Familie, kein Gender, kein Multikulti. Diese Länder wollen keine Migration, diese betrachten sie eher als Gefahr, und nicht als Hilfe. Und das Nationalgefühl ist östlich dieser Linie, wo wir leben, da ist der Nationalstolz die wichtigste Auftriebskraft, das ist eine positive Sache. Für ein deutsches Ohr hört sich national pride vermutlich als eine schreckliche Sache an. Doch östlich von dieser Linie, von der ich spreche, sagen alle Länder, dass man zum Leben drei Dinge braucht: Deine Mutter, Deinen Vater und den Stolz Deiner Nation, ansonsten gibt es kein Leben. Deshalb ist es also wichtig, dass die V4 ein auf konservativen Werten beruhendes Europa vertreten. Wir verstehen, was Sie machen, Migration, dass hier dann auch gleichgeschlechtliche Paare heiraten dürfen, jetzt wird es hier bald auch irgendein Gruppendingsbums geben, diese Dinge verstehen wir, und dass man die Migration begrüßen muss, das ist vom deutschen Gesichtspunkt aus sicher logisch. Doch wir sind anderer Meinung, wie haben eine andere Konzeption. Und diese ist unter ständiger Attacke, das muss man verteidigen. Gemeinsam ist es leichter zu verteidigen als einzeln. Das ist der eine Grund für die V4. Verzeihen Sie mir, dass ich lange rede, doch gibt es noch was anderes, vielleicht noch Wichtigeres. Das sind die Briten. Alle Probleme gibt es wegen der Briten. Denn wenn die Briten nicht die Europäische Union verlassen hätten, wäre jene innere Dynamik der EU aufrechterhalten geblieben, die in den vergangenen dreißig Jahren charakteristisch war, denn die Briten und die V4 haben die föderale Konzeption der Europäischen Union niemals akzeptiert. Sie, die Deutschen, die Franzosen wollten ein Europa des föderalen Typs, und wir nicht – zusammen mit den Engländern. Und das war im Großen und Ganzen in Balance, es war im Großen und Ganzen im Gleichgewicht. Und wenn wir zu einer Übereinkunft kommen wollten, dann gab es auf keiner Seite ein Übergewicht: Man musste sich einigen. Jetzt sind die Briten raus. Damit sind die Föderalisten, die Deutschen und die Franzosen im Übergewicht, die Dynamik hat sich geändert. Wenn die Briten dringeblieben wären, gäbe es in der EU niemals ein rule-of-law-Verfahren, es gäbe kein Konditionalitätsverfahren, es gäbe niemals eine Schuldengemeinschaft. Diese sind alles Dinge, die nationales Recht abschaffen; was früher nationales Recht war, das kommt jetzt nach Brüssel. Die Briten waren immer dagegen. Jetzt sind die Briten gegangen, geblieben sind wir. Wir sind klein, und Sie, die Deutschen und die Franzosen zwingen uns die föderalistischen Konzeptionen auf. Und wenn die V4 aus geopolitischen Gründen nicht kooperieren kann, dann werden sie uns die Dinge aufzwingen, die wir nicht wollen. Also ist die Schwächung der V4 wegen der Geopolitik ein großer Schlag. Ein herber Schlag für uns, mitteleuropäische Nationen und meiner Ansicht nach auch für jene konservativen Menschen in ihrem Land, in Westeuropa, die unsere Werte verstehen und sie mit uns teilen, wie wir Mitteleuropa organisieren.

Ich möchte noch mal auf einen Punkt zurückkommen, weil der mir wichtig ist. Ich möchte noch mal kurz anknüpfen bei den Friedensverhandlungen und dem Waffenstillstand. Wenn ich Sie richtig verstehe, dann wird das ohnehin ausgemacht zwischen Russland und den Vereinigten Staaten. Das erinnert mich so ein bisschen an das 19. Jahrhundert, wo sich große Staatsführer über ein Land beugen und gucken mal, wo die Grenze hier verläuft, „und das machen wir irgendwie auf dem Tisch, beschließen wir, was aus diesem Land wird“. Welche Rolle spielt denn die Ukraine in diesem ganzen, in diesem ganzen geopolitischen Spiel? Also ist das vielleicht nicht ganz ein content négligeable?

 Es gibt ein größeres Problem. Bevor wir diese Frage beantworten könnten, muss man sagen, welche Rolle Europa spielen wird. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg hat Europa seine Souveränität verloren. Europa wurde durch eine russisch-amerikanische Übereinkunft regiert, genauer durch ein Abkommen zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten. Nicht die Europäische Union war das Friedensprojekt – das es zu sagen einem gut fällt, doch wissen wir, dass es nicht so war. Es gab nicht deshalb keinen Krieg in Europa, weil die Europäische Union ein Friedensprojekt war, sondern weil die Russen und die Amerikaner gesagt hatten, dass es keinen Krieg geben wird, denn sie waren übereingekommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das souveräne Selbstbestimmungsrecht Europas vom Kontinent weg. Das wollten wir 1990 zurückgewinnen. Die 1990-er Veränderung war nicht nur die German reunification, die deutsche Widervereinigung, und die Freiheit für uns, sondern die Chance, dass Europa seine Souveränität wiedererlangt. Und Angela Merkel hat dem in der Krimkrise Geltung verschafft. Dort waren wir souverän, die französischen und die deutschen führenden Politiker haben sich mit den Russen und den Ukrainern auf intelligente Weise zusammengesetzt und haben verhandelt. jetzt droht uns, dass wir aus dem Ganzen ausgelassen werden. Europa ist außen vor! Die Amerikaner werden mit den Russen übereinkommen und wir werden wieder außen vor bleiben. Das ist das wahre Problem! Wie können wir also an dem Verhandlungstisch einen Platz für Europa erreichen? Und da es keine europäische Armee, keine europäische Sicherheitsstruktur gibt, es gibt nur die NATO-Struktur, deshalb setzt sich die rohe Kraft durch. Bevor wir also darüber nachdenken würden, wie die Ukrainer auf faire Weise in die Verhandlungen miteinbezogen werden, muss man sagen, wie wir, Europäer dann auf faire Weise hierein miteinbezogen werden. Denn jetzt sieht es nicht so aus. Eine alte Konzeption ist wieder auferstanden. Was war der Leitgedanke der NATO? Keep the Russians out, keep the Americans in, keep the Germans down. Das war die Konzeption. Jetzt schreiten wir in die gleiche Richtung. Die Russen sind auf dem Weg herein, die Amerikaner sind drin, und wir sind unten. Europa muss sich – Macron hat Recht – für seine strategische Unabhängigkeit einstehen. Wenn Europa sich nicht für seine strategische Unabhängigkeit einsetzt, dann wird eine neue europäische Sicherheitslage auf die Weise entstehen, dass diese die Russen mit den Amerikanern aushandeln. Und das ist für uns nicht gut.

Das sind politische Konzepte, die erinnern mich an meine frühe Jugend. Die schärfsten Kritiker, die ich persönlich habe, habe ich zu Hause, mit meinen eigenen Kindern. Die leben in Groß-Britannien und ich weigere mich so ein bisschen zu akzeptieren, dass sie an einem Ort leben, der der Grund allen Übels ist. Und mittlerweile sind wir einfach ein paar Jahrzehnte weiter, und wenn ich Ihnen so zuhöre, denn stellt sich mir die Frage, ob wir nicht in den politischen Konzepten so die Grundsätze der Freiheit, der Gleichheit stärker berücksichtigen sollten, und es auch Minoritäten, egal ob es jetzt sexuelle Orientierung ist, Geografien, wirtschaftliche Stärken oder Nichtschwächen, stärker und gleichberechtigter Berücksichtigung finden sollten. Und hat nicht davon Ungarn in den letzten 30 Jahren also maximal profitiert, als Teil einer solchen Wertegemeinschaft und sollte daher nicht auch die Ukraine Teil dieser Solidarität sein, also von dieser Solidarität profitieren? Und sind wir nicht verpflichtet beim Zivilisationsbruch, den die Russen begangen haben, nämlich einen politischen Wettbewerb mittels Gewalt versuchen zu beeinflussen, an dieser Stelle sehr klar zu sagen, das mag vielleicht die letzten hundert Jahre so gewesen sein, und auch Ungarn hatte einen sehr-sehr großen Preis gezahlt in seiner Geschichte, aber sollte heute nicht mehr mit alldem Wissen, das wir haben, mit dieser Welt, mit all diesem Reichtum heute kein probates Mittel eines politischen Wettbewerbs mehr sein, und sollten wir es nicht – und gerade Ungarn – mit der Geschichte viel energischer zurückweisen und darauf hinarbeiten, dass minore Positionen ihre gleichberechtigte Position in einer zivilisierten Gesellschaft haben sollen? Also die ganz konkrete Frage: Ungarn hatte in den letzten 30 Jahren von diesen Freiheitsrechten profitiert und stellt sie aber aktuell heute durch Sie massiv infrage. Ist das nicht ein Widerspruch an sich?

Darüber habe ich noch nicht nachgedacht, aber das ist eine gute Frage. Zuerst einmal muss man selbstverständlich die ukrainische Position verstehen. Meiner Ansicht nach verstehen die Position der Ukrainer die Ungarn am besten. Man pflegt ja über Butscha zu reden, doch 1956 trug Butscha den Namen Budapest. Also wenn jemand weiß, was militärischer Angriff und Unterdrückung von Seite der Russen bedeutet, so wissen wir das. Unseren Selenskyj hängten sie nach der Revolution von 1956. Also uns muss man nicht erklären, was für eine brutale Sache ein russischer Krieg sein kann. Wir wissen es genau. Und deshalb denken wir, dass man auch alles im Interesse der Ukraine tun muss, doch das meiste, was wir jetzt tun können, ist die Feuerpause. Alles andere ist weniger als das. Wir können jetzt den Ukrainern kein besseres Geschenk machen, als dass wir einen Waffenstillstand erreichen, das ist meine Meinung. Was die Zukunft angeht. Meiner Ansicht nach ist das ein richtiger Gedanke, dass wir die Ukraine in diese Gemeinschaft miteinbeziehen sollten, deren Vorteile auch wir Ungarn, so wie Sie das sagen, genossen haben. Die Ukrainer sollen also näher an die EU kommen. Ob sie sofort beitreten sollen, das ist eine schwierige Frage, doch dass wir den Ukrainern die Möglichkeit bieten sollen, sich an uns anzuschließen, das ist ein Minimum, eine minimale moralische und historische Verantwortung, und dem stimme ich zu. Doch sollten wir das keinesfalls so machen, dass wir uns dabei selbst ruinieren. Es ist also keine Hilfe für die Ukraine, wenn die deutsche Industrie kaputtgeht. Es ist keine Hilfe für die Ukraine, dass die ungarische Wirtschaft kaputtgeht. Wenn wir in eine zwei-drei Jahr dauernde Rezession verfallen, wie jetzt sehr viele wegen der Rezession in sie verfallen werden, damit helfen wir nicht. Wenn es in Deutschland wieder fünf Millionen Arbeitslose geben wird und in Ungarn die Inflation von den gegenwärtigen 3 Prozent auf 12 Prozent wegen der Rezession steigt, damit helfen wir niemandem. Man muss also den Ukrainern so helfen, dass es auch für sie gut ist und auch wir uns nicht ruinieren. Deshalb muss man die Perspektive, die europäische Perspektive, wie Sie es sagen, auch meiner Ansicht nach geöffnet halten. Die NATO ist ein anderes Problem, doch das hat sich vorerst gelöst. In Anführungszeichen: Die NATO-Grundsätze formulieren, dass man ein Land, das im Krieg steht, nicht in die NATO aufnehmen kann. Also ist jetzt dadurch die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine für lange Zeit in Klammern gesetzt worden.

Ich möchte jetzt doch nochmal konkret werden, was einen möglichen Friedensplan angeht. Jeder Fernsehphilosoph – sage ich mal – stellt heutzutage Friedenspläne in den Raum. Ich habe allerdings keinen verantwortlichen Politiker erlebt, der einen wirklich konkreten Fahrplan oder eine konkrete Vorstellung davon hat, unter welchen Bedingungen dieser Krieg in der Ukraine zu Ende gehen könnte. Und nicht nur zeitweilig, sondern möglicherweise auch stabil. Dass nicht die Gefahr besteht, dass innerhalb der nächsten Monate oder paar Jahre genau dasselbe wieder von vorne losgeht. Wie stellen Sie sich denn ein Szenario vor, auf dessen Basis eine Art dauerhafte Friedensordnung in dieser Region geschaffen werden könnte?

Das ist eine schwierige Frage, die Sie erwähnen, und ich besitze keine derart hochfliegenden intellektuellen Ambitionen. Von irgendeinem deutschen Politiker vielleicht, ich erinnere mich nicht mehr, habe ich gelernt, der gesagt hatte, lieber hundert Stunden erfolgloses Verhandeln als ein Gewehrschuss. Und wir sind jetzt in dieser Situation. Also jetzt muss man nicht klug sein, sondern jetzt muss man verhandeln. Und das Ende der Verhandlungen werden wir dann im Laufe der Verhandlungen sehen. Wenn wir darauf warten, dass wir eine Konzeption für den Frieden, für die Ordnung nach dem Frieden haben sollen, wird es niemals eine Feuerpause geben. Jetzt müssen wir uns auf den Waffenstillstand konzentrieren, und dann werden wir sehen.

Der Weg ist das Ziel gewissermaßen.

Jawohl!

Danke! Vielen Dank!

Wir erleben derzeit aus einer globalen Perspektive eine tektonische Verschiebung. Und selbst ein rhetorisch so vorsichtiger Mensch, wie unser aktueller Bundeskanzler, Herr Scholz, spricht von Zeitenwende. Was denken Sie, wie werden unsere Kinder oder unsere Enkel auf diese Zeit und auf diese Politiker schauen, wie sie agiert haben? Vielleicht als Anregung: Wie haben Sie als junger Mann, als Oppositionspolitiker bevor die Mauer gefallen ist, auf die Generation vor Ihnen von Politikern geschaut? Und heute sind Sie in einer ähnlichen Situation: Wie schauen Sie – oder wie denken Sie wird unsere Kinder- und Enkelgeneration auf uns, auf unser Handeln heute schauen?

Zuerst zur ersten Frage, was ich also in den achtziger Jahren gedacht habe? Ungarn liegt an der Trennungslinie zwischen Osten und Westen. Wir müssen immer auf drei Orte blicken: nach Berlin, Moskau und Istanbul. Das ist das ungarische magische Dreieck, in dieser Region leben wir, und wir haben aus der Geschichte gelernt, dass es immer Großmächte gab, die gekommen waren und uns sagen wollten, wie wir zu leben hätten. Es kamen die Türken und sagten uns, welcher der wahre Glaube sei. Danach kamen die Habsburger, die uns sagten, wie der gute Katholik, der gute Christ sei: katholisch – das ist die Antwort. Danach kamen die Nazis, die uns sagten, wo unser Platz in der Rangordnung der Rassen sei. Danach kamen die Russen, die uns sagten: „Wir werden Euch zum Homo Sovieticus umerziehen.“ Also den Ungarn wollten immer alle sagen, wie wir leben sollen. Und ich habe in den achtziger Jahren daran gedacht, dass man den Kommunismus deshalb noch zu meinen Lebzeiten um jeden Preis stürzen müsse, weil ich nicht bereit bin, so zu sterben, dass ich ein Leben gelebt habe, in dem man mir gesagt hatte, wie ich mich verhalten soll, wie ich leben soll. Das ist unmöglich! Und wenn man uns jetzt sagen will – natürlich unter demokratischen Bedingungen –, wie die ungarische Familie sein soll, welche ethnische Zusammensetzung in Ungarn sein soll, ich soll, wir sollen Leute aus der Fremde hereinlassen, da sage ich nur: „Na, ich habe doch gerade dagegen gekämpft! Man soll mir aus Brüssel, Berlin oder Paris nicht sagen, wie die ungarische Familie aussehen soll und wen wir als Migranten hereinlassen sollen und wen wir nicht hereinlassen sollen und wie die ethnische Zusammensetzung aussehen soll.“ Wie? In Ungarn ist die Wahl der Freiheit, des freien Lebens mit der nationalen Unabhängigkeit verbunden. Das Nationalgefühl ist deshalb positiv in Ungarn, weil das Nationalgefühl die Freiheit selbst ist. Wenn Du als Nation nicht frei bist, dann bist Du auch als Individuum nie frei. Das ist das ungarische Gesetz, das ist die Erfahrung. Also sind wir zugleich national motiviert und Freiheitskämpfer. Diese beiden Dinge gehen in einem ungarischen Kopf nur gemeinsam. Was jetzt unsere Kinder anbetrifft: Die Frage ist, wissen Sie, welches Konzept Sie vom Leben haben. Was ist das Leben, was ist das menschliche Leben? Ich weiß nicht, wie in Deutschland die Antwort hierauf lautet, aber in Ungarn ist die Antwort, dass das Leben ein Bündnis ist. Das Bündnis zwischen den bereits Verstorbenen, den verstorbenen Ungarn, den gegenwärtig lebenden Ungarn und den zukünftigen Ungarn. Mein Leben ist nichts anderes als dieses Bündnis selbst. Was ich daraus erhalten habe, und gut ist, das muss ich um jeden Preis bewahren: die Sprache, die Freiheitsliebe, alles, was an den Ungarn gut ist. Übrigens ist nicht alles gut, aber das, was gut ist, muss bewahrt werden. Das Zweite ist, ich darf keine Welt weitergeben, in der meine Kinder nicht auswählen können, wie sie leben wollen. Ich darf kein Land unserem eigenen Kind übergeben, das auf Grundlage der Direktive von Brüssel die Familie, die Migration, den Multikulturalismus regelt, das ist unmöglich! Und ich darf kein Land übergeben, das verschuldet ist. Ich lehne die Schuldengemeinschaft auf prinzipieller Grundlage ab. Ich stimme also mit jenen nicht überein, die denken, eine gute gemeinsame Verschuldung in Europa würde die neue europäische Einheit erschaffen. Das ist das Schlimmste, was geschehen kann. Wir dürfen die Zukunft unserer Kinder finanziell nicht dadurch verbrauchen, dass wir uns jetzt verschulden. Wir wollen unseren Kindern eine freie Welt hinterlassen, in der sie verstehen, was das ist, ungarisch, in der sie verstehen, wofür ich gelebt habe, wofür mein Vater gelebt hat, wofür mein Großvater gelebt hat, und aufgrund dessen werden sie entscheiden, auf welche Weise sie Ungarn sein wollen. Das ist die ungarische Vorstellung. Also wollen wir unsererseits das unabhängigste, das souveränste und freieste Ungarn als Vermächtnis an unsere Kinder hinterlassen. Das ist das größte Geschenk, das ich meinen Kindern machen kann.

Ich hatte die Frage von Holger Friedrich eher so verstanden, dass er wissen wollte, was glauben Sie, wie man in 50 oder 100 Jahren auf diese Zeit zurückblicken wird? Was erleben wir gerade? Man ist ja, wenn man mitten in der Zeit steht, mitten in der Geschichte, kann man das ja selten so gut beurteilen wie dann aus einer späteren historischen Perspektive. Also was für eine historische Zeit erleben wir gerade?

Dann muss ich nur einen Satz hinzufügen: Ich will also, dass unsere Kinder auf die Weise auf dieses Zeitalter zurückblicken, dass dies die Zeit war, in der ihr Vater und ihre Mutter gut für die Unabhängigkeit Ungarns gekämpft und es nicht zugelassen haben, dass irgendein fremder Gesichtspunkt einen Einfluss darauf habe, wie Ungarn sein soll. Wir sind in einer historischen Zeit, in der wir unsere Freiheit und unsere nationale Identität verteidigen müssen. Und ich möchte, dass sich unsere Kinder so erinnern, dass in diesem schicksalshaften Zeitraum ihr Vater und ihr Großvater gut gekämpft haben.

Herr Orbán, letzte Frage. Die betrifft den Anlass Ihres Deutschlandbesuchs. Sie sind nicht nur bei uns zu Besuch – worüber wir uns natürlich freuen – aber Sie haben gestern auch Bundeskanzler Olaf Scholz getroffen. Ganz einfache Frage: Wie waren Ihre Gespräche, worüber haben Sie gesprochen, und begegnen Sie dem deutschen Bundeskanzler eher als Partner oder als Rivale?

Es war ein sehr spannendes Treffen. Es hat ungefähr zwei Stunden gedauert. Und Ihr Kanzler ist ein Mann, der die Dinge schnell und umfassend begreift. Man kann sich gut mit ihm unterhalten. In historischer Perspektive retrospektiv, vorwärtsblickend, auch in der Breite der Dinge, auch über die Wirtschaft, auch über die Politik, auch über die Außenpolitik. Es ist also gut, sich mit ihn zu unterhalten. Dass ich nichts erreicht habe, ist eine Sache für sich, doch unabhängig davon war die Unterredung selbst gut und ein Ungar weiß dies zu schätzen. Der Ausgangspunkt ist in Wahrheit einfach, denn die deutsch-ungarische Freundschaft ist eine spezielle Angelegenheit. Wir haben ja ziemlich viele Dinge im Laufe der Geschichte gemeinsam getan, wir haben schlechte Dinge gemeinsam getan und wir haben gute Dinge gemeinsam getan. Deshalb gibt es in Ungarn keinerlei negatives kulturelles Vorurteil gegenüber den Deutschen. Es sind also nicht nur deshalb so viele Firmen, 6.000 deutsche Firmen in Ungarn, weil man Geld machen kann, sondern weil es in Ungarn gut ist, Deutscher zu sein, und das zählt. Die Donauschwaben haben dazu sehr viel beigetragen. Wir haben Schwaben, die deutsche Minderheit. Meiner Ansicht nach gibt es nirgendwo in der ganzen Welt deutschsprachigen Unterricht vom Kindergarten an bis ganz hinauf zur Universität außerhalb Deutschlands, doch in Ungarn gibt es das, von dem deutschsprachigen Kindergarten bis zur deutschsprachigen Universität. Also die Ausgangslage, die deutsch-ungarische bilaterale Kooperation ist eigentlich gut. Wenn ich die Autofabriken betrachte, dann gibt es in der Welt außer Deutschland und auch noch Amerika nur ein Land, in dem die drei großen Autofirmen gleichzeitig anwesend sind, nämlich: Mercedes, Audi und auch BMW, und das ist Ungarn, nirgendwo anders. Vielleicht in China. Und die Deutschen produzieren nicht nur bei uns, sondern gerade jetzt habe ich ein Forschungszentrum eröffnet, in dem dreitausend Forschungsingenieure arbeiten – dreitausend! –, ein deutsches Entwicklungszentrum. Die deutschen Forscher, Entwickler sind bei uns angekommen, wir kooperieren also auf einem höheren Niveau, und in der Zusammenarbeit im Bereich der Rüstungsindustrie überholt Ungarn selbst Amerika in der deutschen rüstungsindustriellen Kooperation. Nicht nur im Niveau, sondern auch im Geld arbeiten wir in der Rüstungsindustrie stärker zusammen. Hier gibt es also ernsthafte Dinge in der Geschichte, der Sympathie und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Ich pflege den deutschen Bundeskanzlern Toleranzangebote zu machen, die sie im Allgemeinen zurückzuweisen pflegen. Auch jetzt habe ich gesagt, dass wenn wir eigentlich so gut kooperieren könnten, warum lassen wir uns dann nicht gegenseitig zufrieden? Modern nennt man das „Toleranz“. Also ich verstehe, was Sie über die Migration denken, doch warum lassen sie uns nicht das denken, was man nach der ungarischen Denkweise denken muss. Ich will gegen die Migrationsregeln in Brüssel kein Veto einlegen, nur will ich, dass Regeln aufgestellt werden, die uns unsere Freiheit belassen, diese Frage so zu ordnen, wie wir das wollen. Bei uns gibt es Null muslimische Migranten. Wir haben keine multikulturelle Gesellschaft, und ich verstehe nicht, warum wir uns zu einer machen sollten. Wir fühlen uns wohl in unserer Haut, vielen Dank, wir wollen nichts daran verändern. Also habe ich den Bundeskanzler gebeten, den ungarischen Standpunkt zu tolerieren, uns nichts aufzwingen zu wollen. Das Gleiche ist es mit den Familien. Wir akzeptieren diese Genderkonzeption nicht. Wir verstehen, dass es den Gedanken gibt, dass man selbst entscheidet, ob man ein Junge oder ein Mädchen ist. Dazu hat ein jeder das Recht. Auch in Ungarn kann das ein jeder für sich entscheiden. Ja, sie leben auch so zusammen, wie sie es wollen. Ja, es gibt eine rechtliche Regelung, die so ist, wie sie bis 2017 hier in Deutschland war. Wenn sie bis 2017 in Deutschland gut war, warum ist dann dies jetzt in Ungarn nicht gut? Ich verstehe schon, dass sie einen Schritt weitergegangen sind und in die Institution der Familie die nicht traditionellen Partnerbeziehungen hereingelassen haben, das ist Ihre Entscheidung. Doch in Ungarn ist es eine Sache, dass Du frei lebst, so wie Du es willst, und eine andere Sache ist die Familie, die eine juristische Institution ist, die geschützt werden muss. Ich habe ihn darum gebeten, dass Sie tolerieren sollen, dass wir eine andere Vorstellung darüber haben. Warum könnte sie nicht anders sein? Wir also machen ein Toleranzangebot, damit die europäische Kooperation voranschreitet, doch an den Punkten, an denen das für uns nicht gut ist und dies keine gesamteuropäischen Interessen verletzt, da möchten wir unseren eigenen Weg verfolgen. Und wir sind hier noch nicht angekommen. Also Angela Merkel hat mein Toleranzangebot immer zurückgewiesen. Sie sagte: „It’s a must, das muss gemacht werden.“ Und der deutsche Bundeskanzler hat mich jetzt angehört. Er hat mich nicht zurückgewiesen, er sagte aber auch nicht „ja”. Er hat mich angehört. Jetzt sind wir an diesem Punkt angelangt.

Aber es wird Ihnen, glaube ich, wirklich niemand in Brüssel oder in Berlin vorschreiben wollen, dass Sie in Ungarn jetzt zu gendern haben.

Aber ja doch! Wir werden ständig juristischen Verfahren unterworfen. Ja, manchmal sagen sie uns, wir erhalten deshalb keine finanzielle Unterstützung, weil dieses Gesetz nicht gut sei. Worum geht es in der Diskussion in Ungarn? Es geht darum, wer über die Erziehung des Kindes entscheidet. Die Debatte ist nicht über die Erwachsenen in Genderangelegenheiten, sondern über die Kinder, darüber, wer das Primat bei der sexuellen Aufklärung der Kinder besitzt: Die Schule oder die Eltern? Die ungarische Konzeption ist, dass es nicht zulässig ist, dass ohne die Erlaubnis der Eltern das Kind im Kindergarten oder in der Schule irgendeinen, die sexuelle Identität betreffenden Unterricht erhält. Das ist unmöglich! Das ist die Sache der Eltern. Das ist unsere Konzeption. Doch gibt es einen progressiv-liberalen Druck, dass man die LGBTQ-Aktivisten in die Schulen lassen müsste, damit die Kinder zu den Informationen und dem Wissen Zugang erhalten, das zur Bestimmung ihrer persönlichen, der sexuellen Identität notwendig ist. Doch unserer Ansicht nach entscheiden das nicht das Kind und nicht der Pädagoge, sondern die Eltern. Solange das Kind minderjährig ist, entscheiden hierüber die Eltern, denn sie sind verantwortlich für die Erziehung. Und auf uns lastet ein Druck, dass wir das aufgeben sollen. Es gibt einen sehr starken Druck. Zeitweilig verhehlen sie es gar nicht, dass solange wir in diesen Fragen nicht nachgeben, wir gar nicht mit einer finanziellen Kooperation rechnen sollen. Es gibt also heftige Dinge. Aber ich bin jetzt nicht gekommen, um mich zu beklagen, denn von Angela Merkel habe ich gelernt, wer sich beklagt, der ist schwach. Doch wir müssen dies Tag für Tag durchstehen. Wir werden diesen Kampf ausfechten. Aber wenn ich ein Deutscher wäre, wäre ich vorsichtiger, als es die deutsche Außenpolitik gegenwärtig ist. Sie werfen jetzt ja die Veränderung des Prinzips der Einstimmigkeit in der Außenpolitik auf. Heute ist es die Situation, dass man in wichtigen außenpolitischen Fragen nur einstimmig Entscheidungen treffen kann, die Mehrheit reicht nicht aus. Jetzt, nachdem die Briten weggegangen sind, haben wir, mitteleuropäische Länder, nicht die Kraft, irgendeine Sperrminorität gegenüber einer Mehrheitsentscheidung zu organisieren. Ich kann die außenpolitischen Interessen Ungarns nur auf eine einzige Weise zur Geltung bringen und verteidigen, wenn man uns in den Diskurs miteinbeziehen muss, weil es ohne uns keine gemeinsame Außenpolitik gibt. Jetzt stellen die Deutschen es in den Raum, dass wir das aufgeben sollen. Jetzt verstehe ich es, wenn das ein Land mittlerer Größe macht, aber Deutschland, das auch im Übrigen schwer auf der ganzen europäischen Politik lastet? Müsste also Deutschland nicht etwas vorsichtiger mit solchen Vorschlägen sein? Weil was sehen wir davon? Dass die Deutschen selbst die Außenpolitik entscheiden wollen. Das ist nicht gut. Solche Fragen haben wir natürlich auch berührt. Und ich komme alle zwei Jahre einmal nach Berlin. 2018 war ich hier, dann 2020 und jetzt 2022, und das nächste Mal komme ich 2024, wenn Ungarn übrigens die Präsidentschaft des Europäischen Rates, des Rates des europäischen Institutionensystems innehaben wird. Ich hoffe also, dass unser zweites Treffen, das in zwei Jahren fällig ist, dann einen weiteren Schritt nach vorne bedeutet.