Viktor Orbáns Interview in der Sendung „Guten Morgen Ungarn” von Radio Kossuth
16. Juli 2021

Tünde Volf-Nagy: Im Studio anwesend ist Viktor Orbán, Ungarns Ministerpräsident! Guten Morgen!

Guten Morgen!

Was für eine Entscheidung ist im Zusammenhang mit der dritten Impfung gefallen?

Wir haben zahlreiche Entscheidungen getroffen. Hinsichtlich der dritten Impfung möchte ich zunächst sagen, dass die Meinungen in der Hinsicht auseinandergehen, ob eine dritte Impfung notwendig ist oder nicht. Wenn ich es richtig sehe, dann hat heute in der Früh auch die WHO so eine Unsicherheit andeutende Mitteilung veröffentlicht. Jetzt ist die ungarische Regierung der Ansicht, dass wir keine Meinung kennen, nach der sie schädlich wäre, und in der Debatte geht es darum, wie nützlich sie ist. Man muss also keine Angst vor der dritten Impfung haben. Und wenn man vor ihr keine Angst haben muss und sie das Sicherheitsgefühl der Menschen erhöht, wenn sie sie erhalten, warum sollten wir sie dann von dieser Möglichkeit abschneiden? Aufgrund dessen sagt die Regierung, dass wir die dritte Impfung ermöglichen. Wenn ich die internationalen Ereignisse richtig verfolge, dann ist das anderswo noch nicht so. Doch sagen wir auch, dass wir vorschlagen, nach der zweiten Impfung vier Monate verstreichen zu lassen – das sagen die Fachleute –, und die Hausärzte bzw. jene, die die Impfung verabreichen, sollen davon abweichen können, wenn es notwendig ist. Also soll ein jeder – so wie auch bisher – nachdem er einen Zeitpunkt erhalten hat, jenen Impfpunkt aufsuchen, dies kann auch der Hausarzt sein oder ein Impfpunkt, wo man die früheren Impfungen erhalten hat, der Arzt wird dann dort entscheiden, ob er die Impfung auch dann verabreicht, wenn noch keine vier Monate vergangen sind oder es nicht tut. Wenn er sagt, man müsse vier Monate warten, dann bitte ich einen jeden, diese Frist mit Geduld abzuwarten.

Wird es eine Impfordnung geben?

Jetzt möchten wir vorerst die Sache auf die Weise abwickeln, dass wir sie mit möglichst wenig Administration belasten. Also dort, wo der ungarische Staatsbürger die Impfung zuvor bekommen hat, dort wird er auch die nächste erhalten, man muss sich einen Termin geben lassen, aber jene Art von Impfordnung, nach der zuerst die Alten kommen und danach eine andere Altersklasse, so etwas gibt es nicht.

Gibt es ausreichenden Impfstoff, genügend Vakzin dafür?

Ja, im Überfluss.

Wer entscheidet, welcher von den möglichen Impfstoffen der dritte sein soll?

Der Arzt, wir können also diese Verantwortung nicht übernehmen. Auch hier gibt es miteinander konkurrierende Theorien und auch noch das Interesse der Pharmahersteller. Sicherlich möchte ein jeder, dass man seinen Impfstoff als dritte Impfung anwendet. Laut der einen Meinung ist es gut, wenn verschiedene Impfungen kombiniert werden, laut der anderen Meinung hat dies keine Bedeutung. Das können wir nicht entscheiden, das kann die Politik nicht entscheiden, dies müssen wir den medizinischen Fachleuten überlassen.

Ab wann wird diese dritte Impfung möglich sein?

Ab dem 1. August.

Ab dem 1. August. Wir sprechen ja über die dritte Impfung, aber ungefähr drei Millionen Ungarn haben noch nicht einmal die erste Impfung erhalten, hinzu kommt noch, dass diese Menschen jetzt dank der Durchgeimpftheit der anderen sich ohne Impfausweis frei bewegen können, also nicht einmal dies zwingt sie, sich impfen zu lassen. Plant die Regierung irgendeine Art von Zwangsmaßnahme, etwa indem die Impfung obligatorisch wird, wie wir das jetzt in Frankreich und Italien im Fall der im Gesundheitswesen Arbeitenden sehen konnten.

Die allgemeine Lage der Durchgeimpftheit kann man dahingehend beschreiben, dass Ungarn immer noch eines der sichersten oder vielleicht das sicherste Land hinsichtlich der Durchgeimpftheit ist, es haben also die den vollkommenen Schutz zum Ergebnis habende zweite Impfung dem Anteil nach mehr Ungarn erhalten als die Menschen in Großbritannien oder in Deutschland. Wir sind keine Anhänger des Zwanges. Wir haben an einem Punkt eine Ausnahme gemacht, wir haben also einen Beschluss darüber gefasst, dass die Impfung für die im Gesundheitswesen Arbeitenden obligatorisch sein wird. Sie pflegen Kranke, und dort können sich verschiedene Krankheiten addieren, und wenn es auch noch zu einer Ansteckung mit dem Coronavirus kommt, dann kann das Menschenleben kosten. Im Übrigen gibt es im Gesundheitswesen Arten von Impfungen, die die im Gesundheitswesen Arbeitenden verpflichtet sind, sich verabreichen zu lassen. Jetzt haben wir diese, diese Liste um eine verlängert, und im Gesundheitswesen darf nur arbeiten, wer sich gegen COVID impfen lässt.

Das kann ich bestätigen, dass in Ungarn die Situation viel freier ist. Vor kurzem war ich in Berlin, wo man mit der FFP2-Maske in die Geschäfte gehen bzw. mit der Straßenbahn, mit dem Bus fahren kann, ins Restaurant kann man nur mit einem Test oder einem Ausweis hineingehen. Jedoch lassen hier in Ungarn viele Leute gerade nach jeder Lockerung oder nach jedem ausverkauften Fußballspiel, nach jedem wegen der Hitze vollen Strandbad die Alarmglocken schrillen, dass es große Probleme geben wird. Bisher scheinen sie nicht recht gehabt zu haben. Wieso?

Es gibt auch hier zwei Schulen. Manche sagen, man müsse den Weg der Isolation beschreiten. Auch Ungarn hat diesen Weg beschritten, bevor wir genug Impfstoff gehabt hätten. Doch seitdem wir Impfstoff haben, verfolgen wir den durch die zweite Schule vorgeschlagenen Weg, der sagt, der Impfstoff rettet leben. Wir können also dann die Menschen schützen, wenn auch sie geschützt sein wollen, d.h. sie sich den Impfstoff verabreichen lassen. Aber wenn es Impfstoff gibt, dann ist auch das Leben gerettet. Auch jetzt sehen wir, dass selbst wenn es eine erneute Infektion nach der zweiten Impfung gibt – das kommt vor –, ist dann auch ihr Verlauf um vieles milder und gefährdet das Leben viel weniger. Vorhin haben wir über die Alten gesprochen. 85 Prozent der alten Menschen sind durchgeimpft, also jene über 65 Jahre, es gibt also 15 Prozent an alten Menschen, die nicht durchgeimpft sind, sie befinden sich in Gefahr. Jetzt ist also diese Mutante namens Deltavariante erschienen, sie ist aggressiv, roh und findet jene, die nicht geimpft sind. So ist also der, der sich die Impfung nicht hat verabreichen lassen, heute in größerer Gefahr als jemals zuvor während der Epidemie, denn das ist die aggressivste Variante, die jetzt erschienen ist. Und der Umstand, dass die anderen geimpft sind, man persönlich aber nicht, ist für den Ungeimpften keinerlei Hilfe, er befindet sich in der gleichen oder einer größeren Gefahr als jemals zuvor. Deshalb werden wir die Alten – dies hat die Regierung am Mittwoch beschlossen – persönlich aufsuchen. Die Hausärzte, die Ärzte in der Ausbildung, die Medizinstudenten werden wir hier miteinbeziehen, wir möchten also alle alten Menschen persönlich aufsuchen, jene 15 Prozent ungarischer alter Menschen, die sich nicht haben impfen lassen, wir versuchen sie zu überzeugen, sich impfen zu lassen. Wenn sie sich impfen lassen, dann lassen sie sich impfen, wenn nicht, dann nicht, aber wir möchten ihnen eine Chance geben, ihr Leben nicht zu riskieren.

Die Altersgruppe, in der die Impfbereitschaft noch relativ gering ist, ist die der zwischen 12 und 16-Jährigen. Was plant die Regierung, plant sie überhaupt etwas, um in diesem Sinne auch sie dazu zu bewegen, sich impfen zu lassen?

Wir haben auch hier entschieden. Die Durchimpfung der 16- bis 18-Jährigen ist auf eine für viele von uns überraschende Weise mit hoher Geschwindigkeit vorangegangen, sie steht bei etwa 45 Prozent. Ich möchte erneut unterstreichen, dass das, was wir über die Jugendlichen zu denken pflegen, nämlich sie seien nicht ausreichend ernsthaft und sie würden das Leben nicht ernst genug nehmen, diese Meinung wird durch diese Statistiken der Durchgeimpftheit nicht im Geringsten bestätigt, die Jugendlichen sind sehr wohl ernst und 45 Prozent von ihnen haben sich auch schon impfen lassen. Wir haben auch mit der Impfung der 12-15-Jährtigen begonnen, da dürften wir so um 13-14 Prozent sein. Wir wünschten uns, wenn die Zahl hier höher liegen würde. Wenn ich es richtig gesehen habe, dann liegt der Schulanfang Anfang September auf einem Mittwoch, und unser Plan ist es, am Montag und am Dienstag an allen Schulen Impfungen anzubieten. Also können dort alle Kinder vor dem Beginn des Schuljahres, wenn die Eltern das erlauben, die Impfung erhalten.

Gibt es im Zusammenhang mit der dritten Impfung bzw. den Impfungen noch einen Beschluss, der auf der Sitzung des Operativen Stabes gefasst worden ist? Sie haben ja damit begonnen.

Ich habe alles gesagt.

Dann setzen wir aber damit fort, dass einige europäische Länder gerade Restriktionen einführen, z.B. Spanien, denn dort ist die vierte Welle praktisch angekommen. Mit Hilfe welcher Maßnahmen planen Sie zu vermeiden, dass die aus dem Urlaub Heimkommenden in Ungarn nicht eine weitere Welle der Epidemie auslösen, wie das im vergangenen Jahr leider geschehen ist?

Wir haben vorerst keinerlei Maßnahmen hinsichtlich der Beschränkung der Einreisen getroffen. Wir empfehlen jedem Ungarn, aber das ist nur ein Vorschlag, da wir es nicht vorschreiben können, dass nur jene ins Ausland zum Urlaub fahren sollten, die beide Impfungen erhalten haben. Wer also noch nicht beide Impfungen hat, den bitten wir, auch ich selbst bitte sie, lieber nicht ins Ausland zu fahren, denn sie werden die Infektion nach Hause bringen. Wenn Menschen ins Ausland fahren, die geimpft sind, dann bringen sie dementsprechend die Infektion auch nicht nach Hause, oder zumindest wird das Risiko dafür viel geringer sein.

Kann der ungarische Impfpass erneut eine Existenzberechtigung erhalten, wenn zu Hause die Zahl der Infizierten eventuell zunimmt?

Auch jetzt gibt es drei Kategorien, wo er eine Relevanz besitzt. Sportveranstaltungen mit vielen Zuschauern kann man ja nur mit einem Impfpass besuchen. Bei den Vergnügungslokalen mit Tanz und Musik ist dies ebenfalls die Lage bei mehr als 500 Besuchern und bei den großen Konzerten, wo es keine Sitzplätze gibt, sondern an denen man frei teilnehmen kann, das sind die typischen Sommerfestivals, an denen kann man nur mit einem Impfpass teilnehmen. Der ungarische Impfpass besitzt also noch immer einen Sinn. Wir wissen nicht, was die Zukunft bringen wird, aber bisher habe ich die Erfahrung gemacht, dass auf den Kontinenten, auf denen sich eine erneute Welle gezeigt hat, kein einziges Land davon verschont blieb. Wenn es also in Europa eine vierte Welle geben wird, und sie hat in mehreren Ländern begonnen, dann wird sie auch hierher nach Ungarn gelangen. Die Frage ist, wie viele ungeimpfte Menschen sie finden wird.

Im Zusammenhang mit dem chinesischen Impfstoff hat erneut eine politische Debatte begonnen, es gab schon eine solche. Die erste Attacke hat die WHO damit entkräftet, dass der chinesische Impfstoff sicher und effektiv sei. Der Standpunkt der Wissenschaft ist auch jetzt eindeutig hinsichtlich der Effektivität des chinesischen Impfstoffs, und dies beweisen auch sehr gut die Forschungen der Semmelweis Universität. Wer in einer Situation der Epidemie die Menschen verunsichert, rechnet er mit den Folgen? Ich spreche auch über die unmittelbaren Konsequenzen, dass dadurch selbst Rentner zu Untersuchungen getrieben werden, die 15 tausend, 40 tausend Forint kosten, oder man lässt sich nicht impfen, da man denkt, die Impfung sei ja sowieso nicht wirksam.

Jede Meinung, die Unsicherheit erzeugt, um welche Krise es sich dabei auch handeln mag, ist im Allgemeinen ein Übel. Man kann aus jedem Übel, aus jeder Krise auf die Weise herauskommen, wenn wir die Lage verstehen, die Art und Weise des Umgangs mit der Krise benennen und danach handeln. Wir handeln zielgerichtet, das Ziel vor Augen haltend, organisiert, einheitlich, einander unterstützend. Dies ist die Weise, wie man jedwede Krise besiegt, auch die Wirtschaftskrise und auch die Migrationskrise waren dieser Art, und auch diese Viruskrise ist so. Also alles, was das gemeinsame, einheitliche, einander unterstützende, zielgerichtete Handeln schwächt, ist schädlich. Jetzt ist das in der Zeit der Krise besonders so, denn hier geht es nicht um wirtschaftliche Zahlen, sondern um Menschenleben. Die größte Gefahr stellen im Übrigen nicht die paar Spinner, Verzeihung für die Wortwahl, oder die paar Gestörten, jedoch über einen medizinischen Abschluss verfügenden Ärzte, Pseudoärzte dar, die hier und da im Internet auftauchen – denn jeder Beruf besitzt übergeschnappte Vertreter, wir finden also mit Sicherheit selbst auch unter den Ministerpräsidenten übergeschnappte, warum sollten wir diese also nicht unter den Ärzten finden? –, der wirkliche Schaden ergibt sich daraus, wenn Politiker, die ja die Öffentlichkeit formen, plötzlich zu Fachleuten des Seuchenschutzes werden und epidemiologische Ratschläge über das Testen, die Impfung und so weiter zu geben beginnen, anstatt jene Arbeit zu verrichten, die auch ich verrichte, jene Gremien sich anzuhören, in denen Menschen mit der notwendigen Seriosität sitzen, und danach die Entscheidungen dieser Fachleute zu politischen Entscheidungen umzuformen. Wenn sie sich zu Fachleuten des Seuchenschutzes wandeln, da kommen politische Gesichtspunkte ins Bild, und von da an ist nicht mehr das Menschenleben wichtig, sondern das eigene politische Interesse. Na, das ist gefährlich.

Gestern initiierte die Europäische Kommission das Pflichtverletzungsverfahren wegen des Gesetzes zum Schutz der Kinder. Ob dies von Bedeutung ist oder nicht, darüber gehen die Meinungen auseinander. Im Zusammenhang mit Deutschland gibt es beinahe achtzig solcher Verfahren, trotzdem spricht niemand darüber, natürlich wenn es um Ungarn oder Polen geht, dann ist die Situation eine ganz andere. Im Zusammenhang mit der gestrigen Korrespondenz oder der Aufforderung der Europäischen Kommission schrieb Justizministerin Judit Varga, jetzt sei die Katze aus dem Sack. Was ist es, was diese gestern gesandte offizielle Aufforderung konkret beinhaltet?

Nun, da ist nicht die Katze aus dem Sack, sondern eine Hammelpfote, ja sogar ein ganzes Pferd. Ich habe dieses außerordentliche Papier gelesen, das die Kommission Ungarn geschickt hat. Ich versuche es zurückhaltend zu bewerten, denn zunächst einmal stehen wir hier einem juristischen Hooliganismus gegenüber. Also wirklich, das ist ein Randalieren. Also sowohl das Familienrecht als auch der Unterricht gehören ausschließlich zu den nationalen Befugnissen, also Brüssel hat damit überhaupt nichts zu tun, und angesichts dessen wollen sie in dieser Angelegenheit ein Verfahren gegen uns einleiten. Andererseits halte ich es auch für schändlich. Wenn schon die Präsidentin der Kommission das ungarische Gesetz auf diese Weise bewertet hat, muss ich dann sagen, dass der Standpunkt der Kommission schändlich ist. Es ist vollkommen offensichtlich, hierüber sprach die ungarische Justizministerin, dass hier um die Modifizierung des Schulgesetzes gebeten wird, und das Ziel dieser Bitte ist, dass wir, dass man uns zwingt, LGBTQ-Aktivisten in die Schulen lassen zu müssen. Da lautet unser Standpunkt: Wirt werden sie nicht zu unseren Kindern hineinlassen. Die sexuelle Erziehung der Kinder ist die Aufgabe der Eltern. Das Kind gehört zu den Eltern, die Eltern entscheiden über die Erziehung, dies bekräftigen im Übrigen auch europäische Dokumente. Das ist also nicht nur eine ungarische Auffassung, das ist auch eine in europäischen Dokumenten über die Menschenrechte enthaltene Passage, Text, eine allgemeine Richtlinie. Und man kann in den Schulen sexuelle Aufklärung durchführen, wenn die Eltern dem zustimmen, aber auch dann kann man dorthin niemanden anderen als den Lehrer bzw. die durch den Direktor der Schule als geeignet angesehene Person hineinlassen. Also das, was heute in Westeuropa allgemein vorkommt und was man auch hier bei uns allgemein machen möchte, dass man sexuelle Propagandisten in die Schulen hineinlässt, und sie beschäftigen sich dort mit den Kindern, das ist im Westen allgemein verbreitet, das gibt es in Ungarn nicht. Der eine oder der andere Fall ist vorgekommen, ihre Zahl begann zu wachsen, es war also gerade an der Zeit, die Situation zu klären. Also ein juristisches Randalieren, ein juristischer Hooliganismus und ein schändlicher Standpunkt der Europäischen Kommission. Wir haben das Gefühl, man will uns unsere Kinder nehmen.

Über vier Stunden behandelte zuvor das Europäische Parlament das Gesetz zum Schutz der Kinder, was doch ziemlich ungewöhnlich ist. Sie sind zu dieser Debatte nicht hingegangen. Einige Stimmen kommentierten dies dahingehend, Sie seien aus dem Grund nicht hingegangen, und das hätten Sie richtig gemacht, denn bereits vor der Verhandlung war das Urteil verkündet worden, andere Stimmen bezeichneten es als Feigheit. Warum haben Sie nicht an der Diskussion teilgenommen?

Man hat mich nicht gerufen. Man hat mich nicht eingeladen, und hinzugehen pflege ich dann, wenn ich den Eindruck habe, die Debatte sei an dem entscheidenden Moment angekommen, das ist aber noch nicht geschehen. Es wird auch noch viel schärfere und bedeutungsvollere Momente in der europäischen Politik geben. Wir stehen unter enormen Druck. Zum Glück kommt diese Frage in der Nationalen Konsultation vor. Dieser Fragebogen ist jetzt bei den Menschen. Ich bitte einen jeden, für den das eigene Kind und das Recht, selber die Erziehung seines eigenen Kindes zu bestimmen, wichtig ist, für den es wichtig ist, dass die ungarische Regierung die Interessen der ungarischen Eltern verteidigen kann, unbedingt die Nationale Konsultation auszufüllen und uns zu bestärken.

Ende letzten Jahres hatten Ungarn und Polen damit einen großen Erfolg errungen, dass die Rechtsstaatlichkeit und die Auszahlung der EU-Gelder nicht miteinander verbunden worden sind. Jetzt ist ein halbes Jahr vergangen, man würde jetzt die Auszahlung aus dem Wiederaufbaufonds mit dem Gesetz zum Schutz der Kinder verbinden. Wie entschlossen ist die ungarische Regierung? Kann man sie im Zusammenhang mit diesem Gesetz in die Knie zwingen?

Zunächst einmal lassen Sie mich Ihnen sagen, dass diese Diskussion nicht nur eine ungarische Erscheinung ist. Ja nicht einmal nur eine ungarisch-polnische. Es gibt eine sehr ähnliche Diskussion in Italien, so eine läuft in Rumänien und es gab eine ähnliche, große Diskussion – und die Kommission ist auch da aufgetreten – gegen Litauen, aber die Litauer haben ihre eigenen Interessen verteidigt. Und ich glaube nicht, dass wenn es den Litauern gelungen ist, ihre Interessen zu verteidigen, es Ungarn, das meiner Ansicht nach nicht schwächer als Litauen oder in einem schlechteren seelischen oder physischen Zustand ist, es nicht gelingen sollte. Ich gehe also mit der Chance auf Erfolg in diese Schlacht, es wird aber eine blutige Schlacht werden, darüber sollten wir also keine Illusionen haben, hier wird also alles gesagt werden, was die ungarischen Menschen als unfair, ungerecht, als Machtmissbrauch zu bewerten pflegen, das alles wird aufs Tapet kommen. Die Doppelmoral ist im Übrigen in Europa so ziemlich allgemein geworden, nicht mehr nur in der EU, sondern auch bei anderen Organisationen, da ist zuletzt die Fußballeuropameisterschaft, wo wir die Manifestation der Doppelmoral sehen. Wenn jemand sich die Ereignisse in London angesehen hat, und dann hat man die Ungarn für beinahe gar nichts dazu verpflichtet, das Stadion für drei Spiele vor dem Publikum zu schließen. Wenn wir ein verhältnismäßiges Urteil fällen wollten, dann müsste man Wembley abtragen, was sicherlich nicht geschehen wird, es gibt also auch hier eine Doppelmoral. Ich möchte also nur sagen, dass diese Praxis schlecht ist, dies schadet der Europäischen Union, es schadet der Zusammenarbeit zwischen den europäischen Nationen, ist den Werten und den Zielen der Europäische Union entgegengesetzt. Die Verbindung des Geldes mit jedweder juristischen Debatte ist inakzeptabel, besonders wenn wir über eine Debatte über Werte sprechen. Die im Wiederaufbaufonds vorkommende Summe steht den ungarischen Menschen zu, sie haben dafür gearbeitet, das ist keine Spende, das ist die Verkörperung einer allgemeinen Politik der Europäischen Union, wir werden sie also dann noch bekommen. Wie ich sagte, wird dies eine heftige Diskussion sein, doch werden wir diese Summe erhalten. Der Wiederaufbau kann aber nicht warten, denn es ist gerade sein Wesen, dass er schnell sein muss. Jetzt wird man in Brüssel um einen Aufschub von zwei Monaten bitten, wenn ich es richtig verstehe. Wir haben keine zwei Monate, um auf den Wiederaufbau zu warten, deshalb werden wir jene Programme, die wir aus diesem EU-Geld verwirklichen wollen, auch dann starten, wenn das EU-Geld noch nicht zur Verfügung steht, dies hat die Regierung entschieden. Wir werden also diese Programme, diese Ausschreibungen, die zur Wiederherstellung der Wirtschaft notwendig sind, alle veröffentlichen, auch wenn Brüssel uns das Geld nicht gegeben hat, wir werden es aus dem Haushalt finanzieren, und dann wird auch die uns zustehende Summe aus Brüssel ankommen.

Hinzu kommt noch, dass nicht nur die Institutionen der Europäischen Union Druck auf Ungarn ausüben, sondern sich ihnen anschließend NRO-s, die UEFA, und Sie haben ja erwähnt, auch Politiker der Mitgliedsstaaten haben Stellung genommen. Eine wie große Lobby steckt dahinter?

Eine riesige. Wir wissen es auch gar nicht genau, für die Ungarn war dies eher eine verborgene Struktur. Also dass sexuelle Propaganda in der Schule, auf den Fernsehsendern, in den Printmedien sich ereignen kann, dass man an alle möglichen Veröffentlichungen herankommen kann, und wir unsere Kinder dieser Gefahr aussetzen, und jemand dies für normal hält, da hätten wir gedacht, dass es wahrscheinlich nur wenige solcher Menschen gibt. Es wird sich jetzt also für die Ungarn ein Fenster öffnen, von dem aus sie in einer eigentümlichen Perspektive einen Blick auf das europäische Leben werfen können. Wen hat bisher interessiert, was in den deutschen Schulen los ist? Aber jetzt ist das schon interessant, es begann auch mich zu interessieren, was dort geschieht.

Ich könnte darüber erzählen.

Abschreckende Dinge. Und ich will da nicht hineinreden, denn die deutschen Kinder sind die Kinder der deutschen Eltern. Und wenn die deutschen Eltern beschlossen haben, ihre Kinder auf diese Weise zu erziehen, so ist das ihre Verantwortung. Doch können sie von uns nicht erwarten, dass auch wir ihnen folgen, und am wenigsten können sie erwarten, dass sie, ihre Macht missbrauchend, da sie groß sind, uns aufzwingen, unsere Kinder genauso zu erziehen, wie sie sie erziehen. Das sind ungarische Kinder und wir möchten sie auf ungarische Weise, so wie es die ungarischen Eltern für richtig halten, erziehen, und nicht so, wie das in den Niederlanden und in Deutschland geschieht. Aber auch ich sammle jetzt die Informationen, surfe im Internet, sehe mir an, was es gibt, teilweise stehen einem angesichts dessen die Haare zu Berge, was in Westeuropa geschieht. Das haben wir nicht gewusst. Westeuropa lebt ja doch als ein ausgewogener, sicherer, die eigenen Traditionen bewahrender, sich organisch entwickelnder Teil des Kontinents oder als Ländergruppe in den Köpfen der Ungarn. Na, wenn wir jetzt Europa unter dem Aspekt der sexuellen Erziehung betrachten, dann zeichnet sich nicht dieses Bild ab.

Die Europäische Kommission konnte keine offene Attacke gegen das Gesetz zum Schutz der Kinder ausführen, so hat sie sich darauf berufen, dieses Gesetz würde zahlreiche Regeln der EU verletzen, zum Beispiel die Richtlinie über die audiovisuellen Mediendienstleistungen, die Richtlinie über den E-Handel, die Prinzipien der Freiheit der Dienstleistungen und der freien Bewegung der Waren. Geht es in Wirklichkeit in der Debatte noch um das Gesetz? Sie sagten, es wird eine blutige Schlacht und Diskussion werden. Können hier tatsächlich Argumente aufeinanderstoßen, wenn es so scheint, als würde hier die Suche nach irgendwelchen juristischen Lücken laufen, womit man Ungarn in die Ecke drängen könnte?

Das Vokabular und der Rahmen der Diskussion ist juristischer Natur, das Wesen aber politischer. Brüssel missbraucht ganz einfach seine Macht, und will uns aufzwingen, was wir nicht wollen. Und da es hier nicht um uns geht, denn wenn es nur um uns ginge – was wir auch nicht gut vertragen würden, wir haben auch die Sowjets nicht gut ertragen, auch das fällt einem nicht leicht, wenn die eigene Freiheit eingeschränkt wird –, doch hier geht es um eine viel wichtigere Sache als unsere eigene Freiheit: Hier geht es um die Freiheit unserer Kinder, und um die Freiheit des Rechtes auf die Erziehung der Kinder. Und die ungarischen Menschen sind so, wenn es um ihre Kinder geht, dass sich dann dort, in der Magengegend etwas bewegt, dies berührt also unsere tiefsten Instinkte. Das Kind ist also heilig in Ungarn. Und wir können es nicht zulassen, dass Sexualpropagandisten durch unsere Schulen streifen und in den Buchhandlungen ohne jede Vorwarnung Bücher in unsere Hände gelangen oder auch Eltern ahnungslos Bücher kaufen können, auf denen nicht kenntlich gemacht worden ist, was kenntlich gemacht werden müsste, d.h. dass sie etwas beinhalten, was die Eltern abwägen sollten. Die Eltern entscheiden. Wenn die Eltern sich im Übrigen dafür entscheiden, dass sie möchten, das Kind solle jeden Tag einen Regenbogenaktivisten treffen und mit ihm sprechen, dann werden sie es organisieren. Und dann kommt es wie es kommt, solange dem Kind nicht irgendein tiefer Schaden, irgendein Übel zugefügt wird, kann sich der Staat nicht einmischen, denn die Eltern sind verantwortlich für die Erziehung der Kinder. Wenn also irgendwelche Eltern das wollen, so ist das nicht verboten, wer aber nicht möchte, dass sein Kind durch Regenbogenaktivisten über sexuelle Fragen aufgeklärt wird, hat das Recht, dass dies mit seinem Kind nicht geschieht. Und man muss die Rechte dieser Eltern respektieren, der ungarische Staat muss sie garantieren. Dies bestreitet Brüssel. Sie haben eine Vorstellung darüber, wie man die Kinder erziehen muss, ja sie zweifeln es an, ob das Recht der Eltern Priorität besitzt oder nicht. Deshalb kommt es vor, dass z.B. das Geschlecht umwandelnde Operationen in Westeuropa auf die Weise durchgeführt werden, dass die Eltern damit nicht einverstanden sind. Wo kommen wir denn da hin? Ein minderjähriges Kind entscheidet, sich einer das Geschlecht umwandelnden Operation zu unterziehen, ohne dass die Eltern damit im Übrigen einverstanden wären. In Ungarn kann so eine juristische Situation nicht entstehen.

Vielen Dank! Sie hörten Ministerpräsident Viktor Orbán.