Viktor Orbáns Interview in der Sendung „180 Minuten” [„180 perc”] von Radio Kossuth

Einige Stunden vor Pozsony [Bratislava], vor dem informellen EU-Gipfel unterhalten wir uns mit dem ungarischen Ministerpräsidenten, Viktor Orbán, wir senden das Gespräch diesmal in Form einer Aufnahme. Guten Tag, Herr Ministerpräsident!

Ich bedanke mich für die Möglichkeit, auch so über die Aufnahme! Doch muss ich morgen früh nach Pozsony, deshalb reise ich heute Abend ab, damit wir unter optimalen Bedingungen diese wichtige Konferenz beginnen können.

Die Konferenz ist wichtig, es reicht allein schon aus, wenn wir die Einladung hervornehmen und uns anschauen. Die Migrationskrise und der Brexit haben ja scharfes Scheinwerferlicht auf die Schwäche der Europäischen Union geworfen, oder auf den falschen Umgang, die Behandlung der Krisensituationen, die die Europäische Union betroffen haben. Und wenn man in der ersten Hälfte der Woche das Gefecht der verschiedenen Erklärungen verfolgt hat, die vor Pozsony gemacht worden sind, hat man nur hin- und hergeschaut. Wird es am Ende einen nach vorne weisenden Konsens geben? Kann man das im Laufe eines Tages beweisen, dass Pozsony nicht Brüssel sein wird?

Sie wollen viel von mir, vor einer Beratung sagen, wohin wir gelangen werden, das ist in der heutigen Welt nahe an einer Herausforderung Gottes. Wir werden eine Debatte beginnen, wenn ich es richtig verstehe, ist es auch nicht der Plan, diese zu beenden, sondern jenen Fehlern ehrlich ins Auge zu blicken, die die Europäische Union im vergangenen Zeitraum begangen hat und die zwei schwerwiegende Konsequenzen haben. Die eine, dass das Vereinigte Königreich sich von uns verabschiedet hat, und die andere, dass in Europa als Folge des Zulassens der unkontrollierten Einwanderung eine Situation in der öffentlichen Sicherheit und eine Terrorlage entstanden sind, die man nicht handhaben, mit denen man nicht umgehen kann. Diesen beiden Dingen müssen wir ins Auge blicken. Meiner Ansicht nach wird es lange andauernde Diskussionen geben. Jetzt wissen wir noch nicht, ob wir diese Debatte im nächsten Frühjahr oder erst Mitte des kommenden Jahres oder eventuell erst am Ende desselben werden beenden können, doch jetzt muss man sie beginnen.

Gut, aber dies wäre noch kein Nachteil, wenn zwei Punkte, die Migrationskrise und der Brexit jeweils eine Wartenummer bekämen, und die der Migrationskrise wäre die niedrigere unter den zu besprechenden Dingen, weil die westeuropäischen Mitgliedsstaaten lieber den Brexit vorziehen würden, während die Ankündigung Großbritanniens über den offiziellen Austritt noch gar nicht gemacht worden ist.

Die Regeln des gesunden Menschenverstandes fordern, dass wir die Migration an die erste Stelle platzieren. Jetzt erleben wir hier in Ungarn etwas ruhigere Zeiten, wofür der Grund ist, dass in diesem Moment die illegale Einwanderung Richtung Italien auf dem Meer geschieht. Viele Menschen könnten eventuell annehmen, dass – nachdem wir sie hier nicht an unseren Grenzen sehen – eventuell auch gar nichts geschieht. Doch dem ist nicht so, auch Sie berichten darüber vielleicht, das täglich Hunderte, Tausende illegal über das Meer fahren und nach Italien gelangen, damit dann entsprechend dem deutschen Vorschlag Brüssel sie unter uns zu verteilen versucht, damit auch wir welche bekommen. So wie der Herbst naht und die Route auf dem Meer schwieriger wird, so ist die erneute Verlegung des Druckes auf die Festland-, die Balkanroute zu erwarten, und dort bei den von uns errichteten Zäunen werden wir einem großen Druck entgegensehen müssen.

Und er erreicht zum Beispiel die bulgarisch-türkische Grenze, die auch Sie besichtigt haben, und es sind auch einige wichtige Fragen zur Sprache gekommen. Doch bevor wir hierzu kommen – die Visegráder 4 haben doch ihren Standpunkt vor Pozsony bis zu einem gewissen Grad miteinander abgestimmt. Es gibt einen Vierpunktevorschlag, den man als den gemeinsamen Vorschlag der Visegráder Vier betrachten kann, dass dies die Haushaltsdisziplin der Europäischen Union ist, die Europäische Kommission soll ihre ursprüngliche Aufgabe finden, die Migration soll eine Frage der Mitgliedsstaaten sein, und es soll eine gemeinsame Armee geben. Kann dies die Gemeinschaft der 27 aussprechen, dass diese zumindest wichtige Fragen sind?

Wir sollten zuerst an den Punkt gelangen, dass die V4 dies auch in offizieller Form aussprechen! Denn bis jetzt haben wir dies vertreten, doch jetzt ist unser Plan, und als ich jetzt zu Ihnen gekommen bin, haben wir gerade die letzten Glättungen, die letzte Abstimmung in den Verhandlungen vorgenommen, damit es einen gemeinsamen Visegráder Textvorschlag gibt. Denn in diesem Moment ist der Plan, dass das Treffen in Pozsony auf die Weise zu Ende gehen soll, dass an seinem Ende keinerlei Dokument steht. Wir sind der Ansicht, dies wäre aber durchaus möglich, jedenfalls bereiten die V4 eines vor und dies werden sie als gemeinsamen Vorschlag der V4 dem Europäischen Rat vorlegen. Dies wird ein wichtiger Moment im Leben der V4 sein.

Aber kann hierüber bis morgen früh die Entscheidung fallen?

Wir möchten, dass dies noch heute Nacht geschieht.

Und die Visegráder Vier sind sich darin einig?

Als ich kam, waren wir sehr nahe daran.

Es steht auch in diesen vier Punkten, man hört aber im Übrigen immer mehr darüber, dass die nationale Region, also das Europa der Nationen und das bürokratische Brüsseler Europa der Ausgangspunkt der Reform der Union sein soll oder etwas anderes. Weil diese notwendig ist. Also die Migrationskrise und das Ausscheiden Großbritanniens beleuchten jene Denkweise, dass dies notwendig ist. Man hört aber von den Spitzenpolitikern der Union, so zum Beispiel von Präsident Juncker, Äußerungen, als ob auch sie dem Fragenkreis des Europas der Nationen Platz einräumen würden oder jedenfalls mehr Platz als früher. Hören Sie diese Sätze?

Fassen wir kurz zusammen, welchem Muster die Argumente in den vergangenen Jahren folgten! Was für ein Problem sich auch ergeben hatte, es sprangen die Bürokraten hervor, sie wurden dann von einigen größeren und lauteren Politikern unterstützt, und sie sagten, dass für diese Krise, die hier vor uns liegt, nur die noch engere europäische Zusammenarbeit die Lösung sein kann. Noch mehr Europa, und noch mehr Europa…

Dies war immer die Antwort, ja.

Ja, immer. Nehmen wir von den Mitgliedstaaten Kompetenzen weg, geben wir diese der Union und sie wird dann eine Lösung finden. Nun, die Migrationskrise stellt einen Wendepunkt dar, denn die Union hatte es am Anfang übernommen, eine gemeinsame Antwort auszuarbeiten. Darauf haben wir im vergangenen Jahr drei Monate gewartet. Und es hatte sich herausgestellt, dass sie dazu nicht in der Lage ist. Da musste Ungarn, angesichts der nicht tolerierbaren Situation und um die ungarischen Staatsbürger zu beschützen, die Ereignisse in die eigene Hand nehmen und den Zaun aufbauen, die Grenze schützen und so die Sicherheit der ungarischen Menschen garantieren. Also ist die Migrationsangelegenheit eine Sache, in der es vollkommen offensichtlich ist, dass nicht ein Mehr an Europa Hilfe leistet, sondern wenn wir jedem Nationalstaat dabei helfen, seine im Schengen-Abkommen eingegangene Verpflichtung zum Grenzschutz selber erfüllen zu können. Die Griechen müssen die griechische Grenze schützen, die Ungarn die ungarische und so weiter. Wenn sie es nicht können, dann sollen sie um Hilfe bitten, doch die Verantwortung soll in ihrem Kompetenzbereich bleiben. Die Migrationskrise ist also meiner Ansicht nach eine Möglichkeit, zu sagen, es ist nicht auf jede Krise die richtige Antwort, wenn wir ein gemeinsames Europa beziehungsweise mehr Europa wollen. Weil es Krisen gibt, die Migration ist zum Beispiel eine solche, in deren Fall die Nationalstaaten als Antwort auf die Krise gestärkt werden müssten und nicht Kompetenzbereiche von dort weggenommen werden. Jetzt ist es gerade umgekehrt, denn die Brüsseler wollen welche wegnehmen, und mit der Verteilung der Flüchtlinge und der Einwanderer wollen sie die mit den Migranten im Zusammenhang stehenden Kompetenzen an sich binden, was meiner Ansicht nach ein Irrweg ist.

Aber sie wollen diesen Kompetenzbereich nicht nur wegnehmen, sondern sie wollen im Übrigen auch Geld wegnehmen. Und das ist Mathematik. Also bis jetzt haben wir darüber gesprochen, wer was denkt, oder was für eine rhetorische Debatte wir unter den Spitzenpolitikern der Union vor uns sehen. Dies ist aber schon Mathematik, was die Europäische Kommission vorschlägt, dass die Quellen zur Förderung um 24% beschnitten werden sollen. Also im Klartext: minus 24% der Quellen zur Förderung der ärmeren Regionen der Europäischen Union und für die Migration plus 25%. Und dies ist Mathematik.

Es geht hier nicht um Spielzeugmurmeln. Ich versuche überall, wo ich den Wählern begegnen kann, zu verdeutlichen, dass die Ansiedlungsquote und die mit ihr verbundene Volksabstimmung keine unwirklichen, abstrakten, fern von uns sich ereignenden politischen Angelegenheiten sind, sondern dies ist die nackte, die bittere Wahrheit. Dies wird sich hier zwischen uns ereignen. Man wird also Geld von uns wegnehmen, man muss den hierherkommenden Migranten Geld geben, sie werden sie verteilen, wenn wir zulassen, dass nicht wir darüber entscheiden dürfen, ob sie hereinkommen können oder nicht, und die Union wird sie verteilen, und sie wird sie dann unter den Ländern und unter unseren Siedlungen verteilen. Ein jeder wird dann selber die Folgen dessen persönlich spüren können. Deshalb sage ich, dass dies eine gemeinsame Angelegenheit ist, keine Parteiangelegenheit. Dies ist eine Angelegenheit der Nation, auch die persönliche Angelegenheit eines jeden ungarischen Menschen.

Doch im Übrigen kann der Grenzschutz endlich in den Mittelpunkt gelangen, sagen wir, von den anderen Lösungsvorschlägen? Oder wenn wir schon darüber gesprochen haben, welche Probleme jene mit der niedrigeren Wartenummer sind, warum zählt man im Kreis der 27 den Grenzschutz nicht zu diesen Top Drei?

Seien wir fair! Es gibt hier eine Verbesserung. Gerade jetzt war Herr Präsident Tusk bei mir, der den Rat leitet. Er setzt dies schon an die erste Stelle. Es gibt natürlich auch andere Personen mit bedeutendem Einfluss in der Union, die eine abweichende Reihenfolge unterstützen, doch insgesamt muss ich sagen, dass im Laufe des vergangenen einen Jahres der Gedanke Schritt für Schritt stärker wurde, nach dem wir ohne den Schutz der Außengrenzen dieses Problem nicht werden abwehren können. Deshalb vertrete ich dies, auch deshalb bin ich an die türkisch-bulgarische Grenze gegangen, damit jetzt Bulgarien an der Reihe ist, man muss Bulgarien helfen, der bulgarische Zaun muss verstärkt werden, wir müssen dem bulgarischen Grenzschutz Geld geben, damit die Verteidigung gegen die illegalen Migranten so weit südlich wie möglich geschieht.

Dies ist, nicht wahr, jene Frage von drei und halb Prozent, denn Bulgarien benötigt solch eine Summe gemessen an jener, die aufgrund der Vereinbarung von Ankara und der Europäischen Union die Türkei für den äußeren Migrationsschutz erhalten hat. Werden sich diese drei und halb Prozent morgen ergeben können?

Meiner Ansicht nach ist es möglich. Ich sehe eine sehr gute Chance hierfür. Hier geht es grundlegend darum, was die Wahrheit ist. Die Wahrheit ist, dass wir nicht mit einem unter Migrationsdruck stehenden Mitgliedsstaat der Europäischen Union so umgehen dürfen, wie wir das gegenwärtig tun, das heißt dass wir ihn auf sich gestellt lassen, während wir denen außerhalb der Union das Geld in großen Säcken schicken. Dies ist ganz einfach nicht gerecht, nicht vernünftig, dies kann man ändern.

Aber warum glauben hieran auf dogmatische Weise die führenden Politiker der Union? Erklären Sie uns das, warum diese Politiker eher an den instabilen, mit der Türkei abgeschlossenen Handel glauben als an eine Aufgabe des Grenzschutzes.

Sie sind in einer anderen politischen Schule erzogen worden. Wir sind, nicht wahr, in jener politischen Schule aufgewachsen, deren Grundthese ist, dass es immer besser sei, wenn man damit rechnet, dass man uns nicht schaden kann, als damit, dass man uns nicht schaden will. Dies ist schon ein Teil unser Genetik, ein Teil unserer Geschichte, unsere Schutzreflexe sind schärfer, wir leben an einem schwierigeren Ort, in einem stürmischeren Winkel der Europäischen Union als jene, die westlich von uns sind. Deshalb müsste man meiner Ansicht nach unsere Meinung eher aufwerten, denn unsere Meinung wird aus körperlicher Nähe formuliert. Trotzdem muss ich sagen, dass ich Naivität, dass ich böse Absichten niemandem unterstellen würde, die vierzig Jahre im Wohlstand, sie sagen zu jedem Problem, „das werden wir dann lösen“. Wir haben immer gesagt, die Europäische Union wird dann irgendeine Summe Geld geben oder wir werden alle zusammenarbeiten, es existiert also ein Reflex, bei dem es darum geht, dass im Grunde genommen die Geschichte der Europäischen Union darüber eine Geschichte ist, dass es doch immer wieder gelungen ist, jedes größere Problem früher oder später zu behandeln, ohne dass man die Dinge allzu sehr hätte verändern müssen. Und jetzt, wo wir uns einem Übel gegenübersehen, bei dem es offensichtlich ist, dass wenn du einmal einen Fehler begehst, dann wirst du ihn nicht korrigieren können, jetzt ist die Europäische Union gelähmt, sie kann nicht umschalten, kann nicht auf ein anderes Gleis wechseln. Nun ist die Einwanderung und die Migration eine Angelegenheit, dass wenn du dich einmal geirrt hast, und du lässt sie herein und sie kommen herein, dann kannst du danach damit nur sehr schwer umgehen, und meiner Ansicht nach geht es bei der Islamisierung Europas, bei den Terrorhandlungen, bei dem Verfall der öffentlichen Sicherheit hierum. Dies ist also eine Angelegenheit, in der man keinen Fehler begehen darf. Aber ist eine neuartige Angelegenheit, eine neuartige Herausforderung für Brüssel, wo es meiner Ansicht nach gutwillige Menschen gibt, nur sind sie naiv. Aber in solch einer Situation rächt sich die Naivität.

Jedoch wird in Berlin zum Beispiel in die Richtung weitergedacht – und dies zeigt, dass nicht der Grenzschutz das zentrale Problem ist, sondern sie versuchen die Konsequenzen zu lindern – dass den hierhergekommenen Migranten Kredite gewährt werden sollen, damit ihre Ansiedlung und die Anerkennung ihrer Schulzeugnisse durchgeführt werden kann. Also damit sie Kredite von einigen hundert Euro aufnehmen können, und dann irgendwann auf einmal irgendwie werden zurückzahlen können.

Auch ich versuche, dies zu verstehen, weil ich gedacht habe, ich lese die Nachrichten hierüber falsch.

Dies hat die Kanzlerin erklärt.

Ja. Ich dachte, ich lese das nicht richtig, weil ich verstehen würde, wenn sie jenen Geld geben wollen würden, die nicht hierherkommen. Also wenn sie dem Prinzip folgen würden, dass wir die Hilfe dorthin bringen sollten, und nicht das Übel hierherholen. Aber wenn wir ihnen hier Geld geben, dann wollen alle hierherkommen. Auf dieser Welt, auf der wir leben, gibt es drei Milliarden Menschen, also Dreitausendmillionen Menschen gibt es, die aus Einnahmen, aus einem Verdienst von weniger als zwei Dollar am Tag leben. Wenn wir Hundertmillionen hierherbringen würden, was die Europäische Union kaputtmachen würde, dann blieben immer noch 2.900 Millionen. Dies ist also eine schlechte Logik. Die Hilfe muss dorthin gebracht werden, und nicht das Übel hierhergeholt werden. Wenn wir ihnen hier Kredite gewähren, warum sollten sie denn dann nicht hierherkommen? Es ist meine Überzeugung, dass die naive Einwanderungspolitik die unter schlechten Lebensbedingungen lebenden Menschen von den verschiedensten Punkten der Welt nach Europa hineinsaugt. Weil Europa ein phantastischer Ort ist. Nicht zufällig sind wir in ihn verliebt. Dies ist also ein phantastischer Ort, er gibt ein großartiges Leben, ich behaupte nicht, dass es ein problemloses Leben wäre, doch bietet es großartige Möglichkeiten, ist auch herrlich, die historischen Gegebenheiten sind phantastisch, es besitzt eine Kultur der Freiheit, dies besitzt eine große Anziehungskraft. Menschen hierher zu locken, ohne dass man die Konsequenzen zuvor erfasst hat, erscheint zumindest aus dem ungarischen Blickwinkel als kein vernünftiges Verhalten.

Jedoch sind seine Grenzen durchlässig, wie wir das auch im vergangenen Jahr gesehen haben, und auch im bisherigen Teil dieses Jahres. Die Lage ist diese, und, wenn Sie schon Zahlen nennen, dann stehen allein in Nordafrika Hunderttausende praktisch an der Startlinie. Und wenn sich das schlechte Wetter wieder einstellt, dann können sie eventuell auch erneut über die Balkanroute auch die Grenzen Ungarns erreichen. Die Lage ist also so, wie wenn das Hochwasser kommt und Dämme errichtet werden müssen, und die Dämme müssen mit Menschenkraft unterstützt werden. Ist dies für Sie keine Metapher für die Situation?

Doch, genau so. Und ich habe einige Male die Verteidigung gegen das Hochwasser geleitet. Bereits 1998 war dies in Wirklichkeit meine Meisterarbeit. Ich hatte gerade eben erst den Schwur als Ministerpräsident abgelegt, da hatten wir innerhalb eines halben Jahres das große Hochwasser auf der Theiß im Nacken. Und ich habe gelernt, dass es bei solchen Anlässen immer ein gewisses Durcheinander, Chaos gibt, Voraussagen sind ungenau, jeder ist erschrocken, unsicher, man muss für Ordnung sorgen. Man kann in solchen Situationen auf die Weise für Ordnung sorgen, dass man gute Fragen in der richtigen Reihenfolge stellen muss. Und da ist die erste Frage, die man den Fachleuten für Hochwasserschutz stellt: Besteht Ihrer Ansicht nach eine Chance, dass wir das Wasser aufhalten? Oder sollen wir gleich damit beginnen, die Verluste zu minimieren? Oder dann, wenn eine Chance besteht, es aufzuhalten, dann müssen alle Kräfte auf die Verteidigung konzentriert werden. Auch hier ist dies die Situation. Wir müssen also zuerst jene Frage beantworten, was wir glauben, was wir eventuell wissen. Kann man diese Menschenmassen beim Zaun, an der Grenze mit physischen Hindernissen aufhalten? Meine Antwort lautet „ja“. Man kann sie aufhalten. Dies ist technisch möglich, ist militärisch möglich, die Errungenschaften der modernen Technologie sind anwendbar. Ein Land kann sich gegen die in großer Masse, unbewaffnet ankommenden illegalen Migranten verteidigen. Das ist möglich. Doch wenn wir dies ausgesprochen haben, dann müssen wir danach alle Energie darauf konzentrieren, dass diese unsere Fähigkeit keine theoretische, sondern eine tatsächliche sei. Ungarn arbeitet dafür, vollführt die kontinuierliche Verstärkung des Zauns, seine technische Modernisierung, weil wir daran glauben, dass wir sie aufhalten werden. Wahr ist auch, dass es für uns, Ungarn, besser wäre, wenn dies nicht unsere Aufgabe wäre, sondern dies so südlich wie möglich von uns geschehen würde. Wir helfen also gerne den Serben, damit dies dort gelingt, oder den Bulgaren oder den Mazedoniern, damit dies ihnen gelingt, denn dann bleibt für uns weniger Arbeit. Also während wir uns mit uns selbst beschäftigen, wurde für Ungarn die Zusammenarbeit mit den Völkern des Balkan, so wie früher in der Geschichte, erneut zu einem wichtigen Wert.

Wenn wir es betrachten, dann kann tatsächlich auf den von Ihnen erwähnten Abschnitten ein physischer Damm erbaut werden, und man hört auch über Pläne, ja am rumänisch-serbischen Grenzabschnitt kann man dies auch sehen, und es liegt auch ein Grund dafür vor, denn täglich versuchen dort Iraner und andere Migranten den Zaun, den ungarischen Zaun zu umgehen. Also zurück: Wenn ein physischer Damm errichtet wird und der kann diese Flut aufhalten, kann man dann mit dem Ergebnis der Volksabstimmung vom 2. Oktober auch einen juristischen Damm errichten?

Das ist möglich, ja es wird einen juristischen Damm darstellen. Es wird dann große Diskussionen und Auseinandersetzungen in Brüssel geben, aber die bedeutet auch eine juristische Barriere. Ich sage es noch einmal, also in solchen Momenten vertraut man entweder auf die Zusammenarbeit und so auch der eigenen Kraft oder man ist ein Nihilist und sagt, es kann sowieso nicht gelingen, dann lassen wir lieber das Ganze. Jetzt wird gerade diese Debatte in Europa geführt. Meiner Überzeugung nach denken sehr viele gutwillige Menschen auf naive Weise, dass wir sie sowieso nicht aufhalten können, und wenn wir sie schon nicht aufhalten können, dann ist es besser, wenn wir darüber nachdenken, wie wir sie integrieren sollen. Das bezeichne ich als Nihilismus. Denn nach unserer Auffassung muss man jetzt handeln. Also nicht uns ergeben, sondern handeln. Und ich kann kein besseres Beispiel nennen. Wenn die Vereinigten Staaten, die eines der reichsten und attraktivsten Länder der Welt darstellen, in der Lage sind, die von ihnen südlich liegenden Gebiete, von wo aus sehr viele hinaufkommen wollen, mit einem physischen Hindernis von ihrem eigenen Land zu trennen und zu verteidigen, dann sehe ich nicht ein, warum wir Europäer hierzu nicht in der Lage sein sollten.

Beziehungsweise es kann nun – und angesichts der Meinungsumfragen besteht hierzu eine gute Chance –, dass sich Millionen hinter den Standpunkt der Regierung einreihen, wodurch ein Konsens entstehen kann, der einerseits in Europa auch ein Beispiel sein kann, eine Grundlage, auf die man sich berufen kann, beziehungsweise der 2. Oktober kann auch noch ein wichtiges Datum in einem westlichen Mitgliedsstaat werden, hierzu gleich mehr. Aber hier kann solch ein Zustimmungspunkt von Millionen entstehen.

Nun schauen Sie, ich setze die Rolle der Regierung hier jetzt in Klammern, wenn man auch von ihr nicht absehen kann, denn irgendjemand muss den allgemeinen Konsens organisieren, doch hier geht es jetzt nicht um die Regierung, denn – nicht wahr – die ungarische Politik ist derart, dass wenn wir von der Regierung sprechen, dann denken die Menschen an Parteien. Doch ist hier jetzt der Fidesz uninteressant, die Christlichdemokratische Partei ist uninteressant, die Jobbik zählt nicht, und auch die MSZP erscheint nicht im Bild, denn es geht hier nicht um diese Parteien. Sondern es geht darum, ob wir zusammen, gemeinsam die Verteidigung als nationale Angelegenheit behandelnd in der Lage sind, unsere Interessen zu schützen. Nur darum geht es. Ich schlage allen vor, die Parteibrillen wegzuwerfen.

Übrigens, wenn wir schon vom Quotenreferendum sprechen, hören Sie auch jene Sätze hinsichtlich der obligatorischen Teile der verpflichtenden Quoten, die nachgiebiger zu sein scheinen? Diese Woche sind auch solche Sätze gefallen.

Was ist hier nun die Lage genau? Die Wahrheit ist hier, nicht wahr, dass das System der Entscheidungsfindungsprozesse der Europäischen Union äußerst kompliziert ist, deshalb verstehen die Menschen auch nicht genau, was da geschieht. Sehr deutlich formuliert: Damit in der Europäischen Union eine für die Nationen verbindliche Regel entstehe, dazu sind drei Entscheidungen notwendig. Entscheiden muss hierüber die Kommission, das Parlament und danach der Rat. Jetzt sind wir an dem Punkt, dass die Kommission darüber entschieden hat, sie will dies. Sie will also die Menschen hereinlassen und will sie verteilen. Das Parlament debattiert jetzt diesen Fragenkreis, und am Ende kommt dann der Rat, wo es kein Vetorecht mehr gibt, denn dort kann man mit einer Mehrheit, einer starken, großen Mehrheit jene Länder beiseite fegen, zum Beispiel Ungarn, die dies nicht wollen. Wir müssen jetzt also eine Position erschaffen, in der wir die durch die Kommission bereits gefällte Entscheidung, auch wenn wir sie im Parlament nicht aufzuhalten in der Lage sind, sie so doch bei der Entscheidung im Rat aufhalten können. Daran arbeiten wir. Nun, dies wäre beispiellos, wenn es gelingen würde, doch haben wir bereits in einigen Angelegenheiten Ergebnisse gezeigt, mit denen niemand gerechnet hätte, zum Beispiel konnten wir auch immer Ungarn vor dem Hochwasser schützen.

Übrigens, was ich erwähnt hatte, dass es am 2. Oktober auch eine andere Volksabstimmung, auf kommunaler Ebene über beinahe die gleiche Frage in einer südfranzösischen Kleinstadt namens Allex, wohin nach den zentralen Plänen des französischen Staates aus Calais, also von der britisch-französischen Grenze, aus dem so genannten Migrantendschungel, so lautet ja der allgemein verbreitete Begriff dafür, würde man einige hundert Menschen dorthin umsiedeln. Das ist eine Kleinstadt mit 2.500 Einwohnern und praktisch am Nachmittag des gleichen Tages, als in Paris diese Nachricht herauskam, schrieb der örtliche Bürgermeister die Volksabstimmung für den 2. Oktober aus.

Ich möchte, dass jeder ungarische Mensch, wenn er ein bisschen Zeit hat und auf unser Gespräch achtet, hören und verstehen würde, dass in jedem Land, in das Migranten in großer Zahl gekommen sind, diese an verschiedene Orte gesiedelt wurden. Sie wurden je nach Familie, je nach Busch verstreut angesiedelt, und die Siedlungen erhielten welche von ihnen, denn wohin hätte man sie auch tun sollen, wenn man sie nicht verstreut ansiedelt. Man kann sie nicht in Lager schließen, das verbietet die Rechtsordnung, das System der Europäischen Union. Es bleibt also nur eine Lösung, die verstreute Ansiedlung. Deshalb sage ich, die entscheidende Frage ist, dass Brüssel die Migranten hereinlassen und sie danach verstreut ansiedeln will. Ungarn will sie nicht hereinlassen, folgerichtig will es sie auch nicht verstreut ansiedeln. Von diesen beiden Standpunkten, hereinlassen oder nicht, verstreut ansiedeln oder nicht, kann man wählen. Es gibt französische Städte, die den Standpunkt ihrer Regierung nicht akzeptieren und sie wollen die verstreute Ansiedlung nicht.

Diese Woche haben Sie im Parlament vor der Tagesordnung gesagt, dass Brüssel sich auf einen Trick, ein Manöver vorbereitet, sofern es in dieser Frage zu keiner Übereinkunft mit den Mitgliedsstaaten kommt, dann versucht es mit Städten, die eine politisch linke Führung haben, übereinzukommen und diese Frage zu lösen. Woran genau haben Sie hier gedacht? Oder was steckt im Hintergrund dieser Sache?

Vermutlich besuchen wenige Ungarn westeuropäische Städte, aber wenn jemand diesen Sommer sagen wir in Spanien oder in Italien war, dann konnte er jene linken Städte sehen, die voll beflaggt und voller riesiger Transparente mit Aufschriften waren, nach denen sie die hier ankommenden Migranten willkommen heißen. Es gibt also eine linke Bewegung in Europa. Einzelne Städte sind stolz darauf, dass sie Migranten aufgenommen haben, und auch die Brüsseler rechnen damit, dass wenn sie auch nicht Länder, so doch wie in Spanien und Italien Städte finden werden, denn dort haben sie welche gefunden, die bereit sein werden, die Migranten aufzunehmen. Das habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen, dieses Problem ist kein erfundenes, sondern eine tatsächliche, existierende Angelegenheit. Sie bedroht die ungarischen Städte mit linker politischer Führung, doch glücklicherweise werden hierüber nicht die Stadtväter entscheiden, sondern meiner Ansicht nach die ungarischen Wähler am 2. Oktober. Sowohl in Salgótarján als auch in Szeged und auch in Zugló.

Wenn die Volksabstimmung erfolgreich und gültig sein wird, wozu eine Wahlbeteiligung von fünfzig Prozent notwendig ist, sehen Sie dann schon, welche öffentlich-rechtlichen Folgen dies haben wird? Was wird der nächste Schritt im Parlament sein? Eine Verfassungsänderung oder irgendetwas anderes?

Ja. Ich sehe es schon.

Nur Sie verraten es nicht?

Alles zu seiner Zeit. Man muss dann über die Brücke gehen, wenn man bei ihr angekommen ist. Jetzt stehen wir vor einer Volksabstimmung. Ich schlage nicht vor, dass wir jetzt darüber anfangen sollten zu diskutieren, was wir nach der Volksabstimmung tun werden. Jetzt lohnt es sich darüber eine Debatte zu eröffnen, ob wir in der Lage sein werden, eine große Eintracht zu erschaffen, und wir möchten alle Kraft hierauf konzentrieren, und obwohl ich weiß, in welche Richtung wir nach der Volksabstimmung losgehen können, so glaube ich, die Menschen halten mich deshalb in meiner Stellung, damit ich vorausdenke, also habe ich hierfür eine Überlegung, doch jetzt und hier hängt alles davon ab, was für einen Zusammenhalt wir erschaffen können. Wir gehen in eine andere Richtung los, wenn der Zusammenhalt größer ist, und in wieder eine andere Richtung, wenn er kleiner ist.

Gast unserer Sendung war Ministerpräsident Viktor Orbán. Wir danken Ihnen, dass Sie unsere Einladung angenommen haben.

Danke, dass ich hier sein durfte.

Sie hörten das Interview von einer Aufnahme, aber in ungeschnittener Form.