SHARE

Viktor Orbáns Interview in der Sendung „Guten Morgen Ungarn!” von Radio Kossuth

Zsolt Törőcsik: Laut einer früheren Umfrage des Forschungsinstitutes Századvég im März sind 91 Prozent der Ungarn der Ansicht, man müsse dem russisch-ukrainischen Krieg sofort ein Ende setzen und man müsste die Beteiligten an den Verhandlungstisch setzen. Trotzdem begann dieser Tage mit der Unterstützung der amerikanischen Botschaft eine Plakatkampagne, die zwischen den 1956-er und den gegenwärtigen Ereignissen in der Ukraine eine Parallele ziehend mit der Aufschrift „Ruszkik, haza! / Russkis geht heim!” den Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine fordert. Ministerpräsident Viktor Orbán ist unser Gast im Studio. Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen!

Guten Morgen!

Nach dem Start der Plakatkampagne hat ja auch der in Budapest akkreditierte amerikanische Botschafter eine Pressekonferenz gehalten, auf der er Sanktionen gegen die Internationale Investment Bank und gegen drei seiner leitenden Mitarbeiter ankündigte, und anderntags teilte die Regierung mit, dass hiernach die Teilnahme an der Bank sinnlos geworden sei und Ungarn verlasse sie. Wie bewerten Sie die Entwicklungen der vergangenen Tage und worum geht es in dieser Angelegenheit Ihrer Ansicht nach in Wirklichkeit?

Wenn wir die Fakten betrachten, dann werden wir sehen, dass es sich nicht um gegen Ungarn gerichtete Sanktionen handelt. Ich habe die Liste durchgesehen, die die Amerikaner, nicht die Botschaft in Ungarn, sondern Washington veröffentlicht hat, auf dieser werden 34 Privatpersonen aufgezählt. Sie behaupten über diese Privatpersonen, diese hätten jene Sanktionen umgangen, die die Vereinigten Staaten über Russland verhängt hat. Unter den 34 Privatpersonen befindet sich ein Ungar, ein EU-Bürger auch noch eine Person aus Zypern, ich habe auch einen Österreicher und einen Liechtensteiner gefunden. Dies war deutlich erkennbar eine sich grundlegend auf Finanzfachleute konzentrierende amerikanische Aktion. Wir waren mit den Sanktionen niemals einverstanden, doch stellen wir niemandes Recht in Abrede, so auch nicht jenes der Vereinigten Staaten, wenn sie es für richtig halten, Sanktionen zu erlassen. Diese nehmen wir zur Kenntnis und halten sie ein. Die Bank selbst ist eine Bank, die eine ernsthafte Rolle bei der Entwicklung der mitteleuropäischen Wirtschaften hätte spielen können. Das hatten nicht nur wir so gedacht, denn unter den Gründern befinden sich dort die Tschechen, die Slowaken, Rumänien und auch Bulgarien, doch war es seit dem Krieg klar, dass sich die Möglichkeiten dieser Bank verengt hatten, man bei ernsthaften großen Investitionen nicht mit ihr rechnen kann und jetzt, da die Amerikaner sie Sanktionen unterworfen haben, haben sie die damit in Wirklichkeit ja auch kaputtgemacht, ihre Tätigkeit ist unmöglich geworden, sie kann ihre Funktion nicht erfüllen. Gestern haben wir die Sache in der Regierung in mehrerer Hinsicht besprochen und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass unter solchen Umständen die Teilnahme Ungarns an der weiteren Arbeit der Bank sinnlos geworden ist, deshalb haben wir unsere Delegierten zurückgezogen und Ungarn ist aus der Internationalen Investment Bank ausgetreten.

Wie beeinflusst diese ganze Geschichte, angefangen mit den Sanktionen, die Plakatkampagne selbst und der ungarische Austritt das amerikanisch-ungarische Verhältnis?

Zunächst einmal haben wir ein gutes Verhältnis zu den Amerikanern. Wenn ich mich an meine historischen Studien zurückerinnere, so haben wir in unserem Leben vielleicht einmal den Krieg erklärt, in dem aus unserer Perspektive bereits abwärts führenden Abschnitt des Zweiten Weltkriegs. Ich würde das nicht als eine erfolgreiche diplomatische Aktion bezeichnen und seitdem haben wir uns auch nicht mit so etwas versucht. Wir haben viel eher das Gegenteil getan: Wir haben versucht, die möglichst engste freundschaftliche Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten auszubilden. Das haben wir auch mit Erfolg getan. Amerika, die Vereinigten Staaten sind also unser Freund und auch ein wichtiger Verbündeter. In erster Linie in militärpolitischer Hinsicht, denn wir sind Mitglieder des gleichen Militär-, des gleichen Verteidigungsbündnisses. Es besteht auch eine philosophische Ähnlichkeit zwischen den beiden Völkern und den beiden Ländern. Ich glaube, die grundlegenden Überzeugungen stimmen überein. Auch wir sind der Ansicht, dass damit die Menschen in Frieden und Wohlstand leben können, Freiheit und Marktwirtschaft nötig sind. Amerika ist ein christliches Land, obwohl es jetzt in Wertediskussionen sehr gespalten ist, aber es ist ein christliches Land und da auch Ungarn die Folge, das Produkt der christlichen Kultur ist, ohne Christentum würde Ungarn nicht existieren, deshalb bringt uns auch das Wurzelwerk der Werte einander näher. Und dann sind da noch die wirtschaftlichen Verbindungen, die ausgesprochen das Bild einer Erfolgsgeschichte zeigen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es jemals so viele Investitionen in Ungarn gegeben hat wie heute amerikanische Firmen hier arbeiten. Ich kann mich nicht erinnern, dass amerikanische Firmen jemals so vielen ungarischen Menschen Arbeit gegeben hätten wie jetzt und zu unserer Ausfuhr beigetragen hätten, zur Ausfuhr unserer Produkte in einem Maß wie jetzt. Die Situation ist die, dass alles gegeben ist, damit es gute und freundschaftliche Beziehungen gibt. Zugleich muss man auch sehen, dass Amerika nicht einheitlich ist. Früher war es das viel mehr, heute zeigt es das Bild eines geteilteren Landes und die parteipolitischen Unterschiede sind groß. Es lohnt sich also nicht zu leugnen, denn die Menschen sehen es ja sowieso, dass wenn es einen demokratischen Präsidenten im Weißen Haus gibt, dann sind unsere Beziehungen schwieriger, wenn es einen republikanischen Präsidenten gibt, dann sind sie einfacher. Der Grund dafür liegt darin, dass in grundlegenden Fragen der modernen Politik der republikanische Standpunkt dem Standpunkt und der Philosophie der ungarischen Regierung, sagen wir, hinsichtlich des die Migration, die Migranten anlehnenden Standpunktes und der Philosophie oder in der Genderfrage, hinsichtlich des Schutzes der Familien, doch ist es nicht unsere Aufgabe, unter den Akteuren des amerikanischen politischen Lebens eine Auswahl zu treffen. Das amerikanische Volk wird dann entscheiden, wem es die Hauptmacht gibt, und wir kooperieren dann mit der Regierung, die das amerikanische Volk gewählt hat. Und wenn es seine Regierung gewählt hat, dann wird die Regierung ihren Botschafter hierher entsenden. In Amerika sind die Botschafter ja typischerweise politische Ernannte, wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es einen der demokratischen Partei nahestehenden Botschafter gibt. Da können wir nicht hineinreden, sie schicken, wen sie wollen, und wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass der amerikanische Botschafter die Meinung der Vereinigten Staaten in Ungarn vertritt. Es ist ungewöhnlich, dass diese amerikanische Meinungsvertretung durch die amerikanische Botschaft über Straßenplakate verwirklicht wird, hinzu kommt noch, als ob sie in einer Rhythmusverzögerung wären, denn ich habe dieses Plakat gesehen, nun, wir haben die Russkis – es steht da geschrieben, „Russkis geht heim!” – heimgeschickt. Ich persönlich erinnere mich auch recht gut daran, wie dies noch 1989 geschah. Gerade gestern oder vorgestern habe ich auch die Nachricht gesehen, dass der letzte russische Soldat, der Ungarn verlassen hat, gerade jetzt gestorben ist. Gott lasse ihn in Frieden ruhen! Wir haben also diese Sache geordnet, man muss die Ungarn nicht an ihre eigene Geschichte erinnern und vor allem muss man sie nicht dazu ermuntern, dass sie allen gegenüber, so besonders auch gegenüber Russland auf ihre Sicherheit besonders achten müssen.

Ja, denn viele Stimmen sagen ja, Sie haben ja die Unterschiede in der Genderfrage oder in der Frage der Migration erwähnt, die es auch innerhalb Amerikas gibt und die es auch zwischen der amerikanischen und der ungarischen Regierung gibt, und dass der Standpunkt hinsichtlich des Krieges ein Unterschied ist, wegen dem sich die Spannungen auch zuspitzen können oder haben zuspitzen können.

Ich glaube, Sie berühren da tatsächlich einen neuralgischen Punkt, denn natürlich gibt es diese philosophischen Unterschiede, bei denen es um die Fragen der Migration und von Gender, die Fragen des Schutzes der Familien geht, doch aktueller als das ist jener Meinungsunterschied, der heute zwischen Ungarn und den Vereinigten Staaten hinsichtlich des Krieges besteht. Den Krieg unterstützen die ungarischen Menschen nicht, folgerichtig unterstützt ihn auch die ungarische Regierung nicht. Demgegenüber sind die Hauptunterstützer des Krieges die Amerikaner, ganz genau die Vereinigten Staaten von Amerika. Offensichtlich denken wir auf vollkommen unterschiedliche Weise über den Krieg. Doch ist meine Meinung, dass die amerikanisch-ungarische Freundschaft diesen Meinungsunterschied aushalten muss. Ich verstehe den amerikanischen Standpunkt, ich akzeptiere ihn nicht, aber ich verstehe ihn. Schauen Sie, wenn Sie einen Blick auf die Landkarte werfen, dann gibt es keinen sichereren Ort als Amerika. Es wird von beiden Seiten durch den Ozean geschützt, von oben die Kanadier, von unten die Mexikaner, und hinzukommt, dass sie auch noch ein System des Freihandels aufgebaut und noch irgendwann während des 19. Jahrhunderts erklärt haben, Amerika gehöre den Amerikanern, das heißt die Vereinigten Staaten haben es offensichtlich gemacht, dass nicht nur an den Grenzen des Landes, sondern auch die sich den Grenzen des Kontinents annähernden ausländischen Kräfte als Feind betrachten. Sie schützen sich also.  Das ist ein sicherer Ort. Das kann ich über das Karpatenbecken nicht sagen. Also dort in Amerika sitzend bietet die Welt ein ganz anderes Bild, bieten die Risiken der Weltpolitik ein anderes Bild als wenn man sie von Budapest, oder Gott bewahre von Sepsiszentgyörgy oder Kassa aus betrachtet, oder um aktuell zu sein, wenn man die Geschichte von Beregszász aus betrachtet. Deshalb also wissen die Amerikaner, wenn sie, sagen wir, von der Eskalation eines Krieges hören, dann entsteht vor ihren Augen das Bild eines Atomkrieges, und sie wissen, dass sie über ein großes Arsenal und über eine abschreckende Kraft verfügen. Wenn ich „Atomwaffen“ höre oder dass ein westeuropäisches Land solche abgereicherten uranhaltigen Waffen in die Ukraine bringt, dann denke ich an Tschernobyl. Amerika, einem Amerikaner würde das niemals einfallen, doch wir wissen, wenn etwas in der Ukraine geschieht, dann ist es besser, wenn man nicht auf die Straße hinausgeht, wir wissen also, was damals geschehen ist. Oder wenn man in Amerika hört, an der ukrainisch-russischen Front sei jemand gestorben, da fühlen sie sicherlich Mitleid, weil dies ein Verlust ist, doch ist das nicht das gleiche Gefühl wie das unsere, denn ich denke sofort daran, ob der, der gestorben ist, eventuell ein Ungar aus Transkarpatien war. Wir befinden uns also hier in der Nachbarschaft. Alles, was dort geschieht, wird noch am gleichen Tag Teil unseres Lebens. Die Dimension der Amerikaner ist eine ganz andere, deshalb sage ich, wir erwarten zu Recht von den Vereinigten Staaten, dass sie die spezielle Situation Ungarns, seine Nähe zur Ukraine zur Kenntnis nehmen und verstehen, dass wir deshalb auf der Seite des Friedens sind, wir wollen dort auch bleiben. Ich behaupte nicht, diese Fähigkeit zu verstehen sei stark, die Vereinigten Staaten haben also ihren Plan nicht aufgegeben, alle, Ungarn mit inbegriffen, um mich stilgemäß auszudrücken, in ein Kriegsbündnis hineinzupressen. Doch habe ich mehrfach deutlich gemacht, auch die ungarische Diplomatie hat das zum Ausdruck gebracht, dass da der ungarische Wille, der Wille der ungarischen Menschen eindeutig ist und unsere historischen Kenntnisse auch auf ziemlich stabilen Füßen stehen, deshalb werden wir es nicht zulassen, gleich welche Instrumente auch unsere Freunde wählen werden, dass sie uns in einen Krieg hineinpressen, hineindrängen. Wir werden keine Waffen liefern und wir werden nicht an einem Konflikt teilnehmen, der nicht unser Krieg ist.

Sie erwähnten, der Wille der Ungarn sei eindeutig und tatsächlich deuten auch die Meinungsumfragen in diese Richtung. Dieser Konsens, der in der Gesellschaft vorhanden ist, kann er auch in der Innenpolitik geschaffen werden?

Es gab dafür die Chance und ich unternehme regelmäßig auch den Versuch dazu. Das ist keine dankbare Aufgabe, wenn Sie also eventuell die Parlamentsdebatten verfolgen – meiner Ansicht nach lohnt sich das, manchmal werden dort auch spannende und häufig unterhaltende Debatten geführt –, dann können Sie sehen, dass im Dialog mit der Opposition, mit der Linken – Interpellationen, sofortige Fragen – ich eher danach strebe, Punkte der Übereinstimmung zu finden. Unsere Unterstützung ist stabil, in der Angelegenheit des Krieges ist sie es besonders, die Linke, die auf der Seite des Krieges steht, genießt nur die Unterstützung eines Bruchteils der ungarischen Menschen, der Standpunkt des Friedenslagers, der den Frieden und die Sicherheit in den Vordergrund stellende nationale, nennen wir ihn den durch die Regierung vertretenen Standpunkt, besitzt eine bei weitem dominierende Mehrheit in Ungarn, doch ist die Einheit einerseits immer eine nützliche, schöne und gute Sache, und je mehr in den großen Dingen das Land in Übereinstimmung ist, umso stärker sind wir. Ich bedauere es also, dass die Linke auf der Seite des Krieges steht und sich nicht im ungarischen Friedenslager befindet. Und ich benutze auch die parlamentarischen Möglichkeiten, lieber den Standpunkt der Regierung vorzustellen und nicht, sie niederzumachen und vor allem nicht um sie zu beleidigen, obwohl die Stunde der sofortigen Fragen am meisten an die Stunde der sofortigen Beleidigungen erinnert, doch ich strebe trotzdem danach, dass es irgendeine Brücke geben sollte, über die auch sie ins Friedenslager herüberkommen könnten. Deshalb haben wir auch dem Parlament einen Beschlussvorschlag vorgelegt, der bekräftigte, dass Ungarn an diesem Krieg nicht teilnehmen will und nicht teilnehmen wird, keine Waffen liefert und die internationale Gemeinschaft auffordert, ihre Energien statt der Unterstützung des Krieges lieber im Interesse der einen Waffenstillstand erzielenden und den Frieden zum Ergebnis besitzenden Verhandlungen mobilisieren sollte. Jetzt hat die Linke das nicht akzeptiert, sie ist nicht über diese Brücke spaziert, ist von der Kriegspartei nicht ins Friedenslager gewechselt, doch die Hoffnung stirbt zuletzt, wir werden sehen.

Man kann sehen, dass doch auch Westeuropa vorerst eher auf der Seite des Krieges ist, zumindest zeigt dies, dass in einem der aus dem Pentagon geleakten Dokumenten steht, spezielle militärische Kräfte der westlichen Länder seien auch dort auf den Schlachtfeldern. Und Deutschland hat zum Beispiel erlaubt, dass Polen weitere MiGs der Ukraine schicken darf. Aufgrund dessen scheint es doch so zu sein, dass der Rückweg, der Rückweg zum Frieden sich immer ferner befindet. Wie sehen Sie jetzt die weitere Eskalation, die Gefahr der Eskalation?

Immer düsterer. Sagen wir, wenn wir unser letztes Gespräch in Erinnerung rufen, das mag vor zwei Wochen gewesen sein, da war die Situation eine bessere als jetzt, und wenn wir unser Gespräch von davor in Erinnerung rufen, dann können wir uns daran erinnern, dass es damals noch besser war. Also bei jedem einzelnen Anlass, wenn wir uns begegnen, müssen wir darüber sprechen, dass die Situation sich verschlimmert und die Eskalation zunimmt. Allein seit unserem letzten Zusammentreffen gibt es ja zwei wichtige Nachrichten. Die eine, dass die Briten, wenn ich mich richtig erinnere, dann die Briten, diese Munition mit abgereichertem Uran an die ukrainische Front liefern wollen, was natürlich kein unbekanntes militärisches Instrument ist, uns aber doch trotzdem der Welt des nuklearen Instrumentariums einen Schritt näherbringt. Das ist natürlich noch keine Atombombe, doch ist es schon etwas, das die Eigenheiten der nuklearen Energie, der nuklearen Schusswaffen in den Krieg einbringt. Und angesichts dessen sträuben sich einem die Haare. Und die andere Nachricht ist, dass die Russen, vielleicht als Antwort, auf das Gebiet von Belarus taktische Atomwaffen stationiert haben. Die Eskalation des Krieges zeigt also jetzt schon ganz deutlich, dass wir die Grenzlinie der nuklearen Waffen erreicht haben. Schon neulich hatte ich gesagt, dass jene Angst keine literarische Übertreibung ist, die dort in uns allen vorhanden ist, dass die weitere Ausbreitung des Krieges früher oder später auch mit der Einbeziehung einer Atomwaffe irgendeines Typs einhergehen kann. Wenn es also einen Weltkrieg geben wird, dann wird das ein Atomkrieg sein und der liebe Gott soll uns davor retten! Ich will nicht sagen, dass dies morgen Früh eintreten könnte, doch die Tendenz, der Rhythmus, die Marschrichtung der Ereignisse deuten in diese Richtung.

Gestern sprach ja Péter Szijjártó darüber, man müsse dem vorbeugen, dass eine sich über die ganze Welt erstreckende Krisenspirale herausbildet, die nicht nur den Krieg betreffen würde, denn in einer globalisierten Welt sehen wir doch, dass der Krieg in bestimmten Teilen der Welt eine Lebensmittelknappheit verursachen und anderswo das Funktionieren der industriellen Versorgungsketten behindern kann. Kann man dem vorbeugen?

Selbstverständlich kann man allem vorbeugen, denn diese Übel kommen nicht als Ergebnis einer göttlichen Fügung über uns, sondern menschliche Entscheidungen rufen die Konflikte hervor. Wenn also die führenden Politiker der Welt bei Sinnen sind, dann könnte die Welt auch in einem viel besseren Zustand sein oder in ihn gelangen, als in welchem sie jetzt ist. In dieser Hinsicht kann man vielleicht den Besuch des französischen Präsidenten in China als von großer Bedeutung bezeichnen, denn es erschien eine andere Stimme, die nicht darauf schaut, welche potenziellen Feinde es gibt, sondern danach sucht, wo es welche potenziellen Partner gibt. Das ähnelt dem, was für das ungarische Denken charakteristisch ist. Auch wir halten es für das Ziel der Außenpolitik, Freunde zu sammeln. Wir wollen keine Feinde sammeln und wir wollen keine Konflikte heraufbeschwören, sondern wir wollen Freunde sammeln, und wir denken auf die Weise, dass es gut ist, wenn möglichst viele Länder der Welt auch persönlich daran interessiert sind, dass Ungarn erfolgreich sein soll. Sie treiben Handel mit uns, investieren, kooperieren, verhandeln, es gibt diplomatische Beziehungen usw. Und die Bemerkungen des französischen Präsidenten über die europäische strategische Autonomie zeigen in diese Richtung. Denn was bedeutet dies? Er sagt, Europa müsste intellektuell doch Ansprüche an sich stellen. Das ist doch für den europäischen Geist erniedrigend, ganz einfach nur die Außenpolitik anderer Länder zu übernehmen. Also sind wir hier doch mit dieser paar tausend Jahre alten europäischen Geschichte ausreichend erfahren und sinnbegabt, um von unseren eigenen Interessen auszugehen und nicht die Interessen anderer zu kopieren. Und er fordert uns auf – er macht dies nicht das erste Mal –, diese Arbeit, diese geistige Arbeit zu verrichten. Im Zusammenhang mit China sollten wir diese verrichten und bevor wir einfach nur den Standpunkt oder die Standpunkte der amerikanischen Außenpolitik wiederholen würden, sollten wir darüber nachdenken, ob diese mit den Interessen Europas übereinstimmen. Und dort, wo sie nicht übereinstimmen, sollten wir das offen aussprechen, zum Ausdruck bringen, darüber verhandeln, eine Situation schaffen, in der Europa über eine strategische Alternative verfügt. Ich muss sagen, der französische Präsident ist heute der einzige führende Politiker in Europa, der in der Lage ist, Fragen auch in einer historischen Perspektive zu stellen. Das ist eine andere Sache und unser Pech, dass der Präsident von Frankreich jetzt nicht de Gaulle heißt, denn mit ihm würden wir in beinahe allen Fragen leicht übereinstimmen, sondern er heißt Herr Präsident Macron, der ein ehrenwerter Präsident ist, doch stellt er sich die Zukunft Europas nicht so vor wie wir. Wir vertrauen ja auf eine christliche Renaissance, wir sagen, dieser Kontinent war einmal schon groß, er war einmal schon stark, wir wissen, dass seine Kraft dem Christentum und seiner christlichen Wertordnung entspringt, auf diesen Weg müssten wir wieder zurückfinden, denn wir sind davon abgekommen. Und der französische Präsident sagt, nein, das ist bereits die Vergangenheit, man muss ein liberales Europa auch im Weltmaßstab wettbewerbsfähig machen. Doch ist das wenigstens eine in einer Dimension ablaufende Diskussion, die einen Sinn besitzt und die die Wege der Zukunft sucht, und nicht solch eine, Verzeihung für die Formulierung, kleinliche, einander herumschubsende, einander provozierende, Sanktionen unterwerfende, einander behindernde europäische politische Perspektive, unter der unser Kontinent derart leidet.

Wenn wir in die Gegenwart zurückkehren und über die wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges sowie der Sanktionen sprechen, so war ja europaweit die ansteigende Inflation eine der ernsthaftesten Auswirkungen. In Ungarn nimmt die Geschwindigkeit des Wertverlustes des Geldes zwar sei Januar Monat für Monat leicht ab, das Maß betrug im März 25,2 Prozent. Bietet dies die Möglichkeit, die Preisdeckel zu beenden? Vor zwei Wochen sagten Sie, im Zusammenhang damit würde ernsthafte Arbeit unter der Leitung von Márton Nagy darüber geleistet, wie und in wie vielen Schritten man dies machen könnte.

Leider noch nicht. Also auf Ihre Frage, ob das, was bisher im Interesse der Senkung der Inflation geschehen ist, ausreichend sei, um die Preisdeckel aufzuheben, auf diese Frage muss ich geradeheraus sagen: Nein. Was bisher geschehen ist, ist zu wenig. Es gibt zwar einige Produkte in den Geschäften, besonders Produkte der Lebensmittelindustrie, bei denen es zu ganz drastischen Preisrückgängen gekommen ist und die Händler darin im Wettbewerb stehen, wer mit niedrigeren Preisen mehr Käufer anziehen kann. Das ist gut, im Prinzip wäre dies der Sinn des Wettbewerbs, doch leider ist das Spektrum oder das Feld dessen noch eng. Das ist also bei wenigen Produkten so. Und ich hoffe, im April wird die Abnahme der Inflation besser spürbar, allgemeiner sein, sich nicht nur auf das eine oder das andere Produkt oder die eine oder die andere Produktgruppe erstrecken wird, sondern es im Allgemeinen eine breitere Inflationssenkung geben wird und im Mai-Juni rechne ich auch mit einem deutlichen Rückgang. Es gibt ja diesen Impfstoff, wir nennen sie Politik gegen die Inflation, die wir verabreicht haben und wir warten, dass sie ihre Wirkung ausübt. Diese Abnahme um einige Prozent oder Zehntel ist ermunternd, aber leider sehr wenig. Die Inflation ist also zu hoch, die Regierung muss auch weiterhin daran arbeiten, die Inflation zu brechen. Wir haben auch so ein System der Beobachtung der Preise aufgestellt, die verschiedenen staatlichen Behörden sind in militärischer Formation aufmarschiert, hier spielen das Wettbewerbsamt und auch die Verbraucherschutzbehörde eine Rolle, es gibt auch Kontrollen, wir veröffentlichen das Maß der Preise und versuchen zu erreichen, dass die Händler nicht jetzt das beste Geschäft aller Zeiten zu machen versuchen, sondern es soll Wettbewerb geben und die Preise sollen nach unten gehen.

Und kann in dieser Hinsicht die Regierung auf die Hilfe von Brüssel rechnen? Sie hatten früher ja gesagt, von dort kämen nur Sanktionen, doch steht eventuell deren Milderung auf der Tagesordnung, denn wir sehen, dass die Unzufriedenheit, die gesellschaftliche Unzufriedenheit auch in anderen Ländern im Zusammenhang damit immer größer ist.

Bis zu unserem nächsten Treffen, sofern Sie mich erneut hierher einladen werden, ist kein Durchbruch zu erwarten. Wir sind dort noch nicht angelangt, dass die europäische Öffentlichkeit die führenden europäischen Politiker zur Veränderung ihres Standpunktes hinsichtlich des Krieges und der Sanktionspolitik zwingen würde. Doch der Moment der Wahrheit wird kommen, denn das, was jetzt geschieht, das macht Europa kaputt. Es macht seine Sicherheit kaputt, es mach seine Wirtschaft kaputt. Im Wesentlichen ist die Ukraine in finanziellem Sinn kein existierendes Land. Dort besteht ein derart drastischer Rückfall der Wirtschaftsleistung, was aufgrund des Krieges vollkommen zu verstehen ist, woraus offensichtlich ist, dass die Ukraine sich selbst nicht finanzieren kann. Die Frage ist, ob wir die Ukraine aufrechterhalten. Und in dem Moment, in dem die Amerikaner und Europa auf diese Frage mit „nein“ antworten, dann ist der Krieg auch vorbei, dort entsteht eine neue Situation. Doch vorerst geschieht dies noch nicht, sondern dass auch die ungarischen Steuerzahler sehr wohl über den gemeinsamen Haushalt der EU die Ukraine mit sehr großen Summen unterstützen. Deshalb verstimmt es die Ungarn, wenn wir sehen, dass anstatt, dass die ungarische Minderheit anerkannt und unterstützt werden würde, sie durch die ukrainischen Behörden ausgesprochen verfolgt wird. Jeden Tag kommen immer schlimmere Nachrichten hinsichtlich der Unterdrückung der dort lebenden Ungarn, obwohl im Übrigen wir, Ungarn, zugleich über den gemeinsamen Haushalt der EU mit Hundertmillionen von Dollar oder von Euro dazu beitragen, dass der ukrainische Staat überhaupt funktionieren kann. Wir zahlen die ukrainischen Renten, Europa und darin Ungarn. Wir zahlen die ukrainischen Gehälter. Wir erhalten ihre Staatsverwaltung, ihr Gesundheitswesen, ihr Unterrichtswesen. Das alles erhalten wir aufrecht und das ist eine gewaltige finanzielle Belastung, hier sprechen wir über viele zehn Milliarden Euro, die aus der europäischen Wirtschaft fehlen, und es ist offensichtlich, dass man dies nicht endlos fortsetzen kann.

Über den russisch-ukrainischen Krieg, das ungarisch-amerikanische Verhältnis und die weiteren Schritte zur Senkung der Inflation befragte ich in der vergangenen halben Stunde Ministerpräsident Viktor Orbán.

FOLLOW
SHARE

More news